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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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auf. Einen Moment lang begriff sie nichts. Dann sah sie die Kabine. Die kleine Blende am Fenster war herunter gezogen, und alles ringsherum erschien in blaß leuchtendem Grau, erfüllt vom Rauschen der Triebwerke. Noch immer zogen die Schockwellen durch sie hindurch. Sie lag in ihrem großen weichen Flugzeugsessel und ließ sich von ihnen tragen – fast wie weiche, wunderbar modulierte Stromstöße waren sie, und ihr Blick wanderte träge an der Decke entlang, während sie sich bemühte, die Augen offenzuhalten und aufzuwachen.
    Gott, wie sah sie wohl aus nach dieser kleinen Orgie? Sicher ganz rot im Gesicht.
    Ganz langsam richtete sie sich auf und strich sich mit beiden Händen das Haar zurück. Sie versuchte den Traum noch einmal herauf zu beschwören, nicht wegen des sinnlichen Empfindens, sondern um der Informationen willen, wollte noch einmal in sein Zentrum zurückgelangen, um zu wissen, wer es gewesen war. Nicht Michael. Nein. Das war das Schlimme.
    O Gott, dachte sie. Jetzt habe ich ihn mit Niemand betrogen. Wie sonderbar. Sie preßte die Hände an die Wangen. Sehr warm. Noch immer fühlte sie das leise, vibrierende, hilflos machende Behagen.
    »Wann landen wir in New Orleans?« fragte sie, als die Stewardeß vorbeikam.
    »In einer halben Stunde. Schon angeschnallt?«
    Sie lehnte sich zurück, tastete nach der geschlossenen Gurtschnalle, überließ sich der köstlichen Entspannung. Aber wie konnte ein Traum so etwas schaffen? fragte sie sich. Wie konnte ein Traum so weit reichen?
    »Möchten Sie noch einen Drink vor der Landung?«
    »Nein. Einen Kaffee.« Sie schloß die Augen. Wer war er gewesen, ihr Dream Lover? Kein Gesicht, kein Name. Nur die Empfindung von jemandem, der zarter war als Michael, beinahe ätherisch – zumindest kam ihr dieses Wort jetzt in den Sinn. Der Mann hatte mit ihr gesprochen, dessen war sie sicher, aber bis auf die Erinnerung an das Wohlgefühl war jetzt alles vergangen.
    Erst als sie sich aufsetzte, um den Kaffee zu trinken, spürte sie ein leichtes Wundgefühl zwischen den Beinen. Möglicherweise eine Nachwirkung der starken Muskelkontraktionen. Gottlob war niemand in der Nähe; niemand saß neben ihr oder auf der anderen Seite des Ganges. Aber sie hätte es nie so weit kommen lassen, wenn sie nicht verborgen unter der Decke gelegen hätte. Das heißt, wenn sie sich zum Aufwachen hätte zwingen können. Wenn sie die Wahl gehabt hätte.
    Langsam nippte sie an ihrem Kaffee und schob die Fensterblende hoch.
    Grünes Sumpfland in der sinkenden Nachmittagssonne. Und der dunkelbraune Fluß, der sich schlangengleich um die ferne Stadt wand. Sie verspürte ein plötzliches Hochgefühl. Fast da. Der Klang der Maschinen wurde rauher, lauter, als der Landeanflug begann.
    Sie wollte nicht mehr an den Traum denken. Sie wünschte ganz ehrlich, sie hätte ihn nicht gehabt. Ja, plötzlich kam er ihr furchtbar abscheulich vor, und sie fühlte sich besudelt und erschöpft und wütend. Sogar ein bißchen angeekelt. Sie wollte an ihre Mutter denken, und an das Wiedersehen mit Michael.
    »Wo bist du, Michael?« wisperte sie und lehnte sich zurück.

 
    22
     
     
    DIE AKTE ÜBER DIE MAYFAIR-HEXEN
    TEIL VIII
     
    Die Familie von 1929 bis 1959
     
    DIE UNMITTELBARE FOLGEZEIT NACH STELLAS TOD
     
    Im Oktober und November 1929 kam es zum Börsenkrach, und die Weltwirtschaftskrise begann. Die Goldenen Zwanziger Jahre gingen zu Ende. Allenthalben verloren reiche Leute ihr Vermögen. Und in einer Zeit neuer und unwillkommener Kargheit kam es zu der unvermeidlichen kulturellen Reaktion auf den Exzeß der zwanziger Jahre. Kurze Röcke, trinkfeste Society-Löwen, erotisch angehauchte Filme und Bücher kamen aus der Mode.
    Im Hause der Mayfairs an der Ecke First und Chestnut Street in New Orleans verdunkelten sich die Lichter mit Stellas Tod, und sie strahlten nie wieder auf. Kerzen brannten an Stellas offenem Sarg bei der Totenfeier im großen Salon. Und als Lionel, ihr Bruder, der sie vor Dutzenden von Augenzeugen mit zwei Kopfschüssen getötet hatte, kurz darauf beerdigt wurde, war er nicht im Hause aufgebahrt, sondern in einem sterilen Bestattungsinstitut in der Magazine Street.
    Innerhalb von sechs Monaten nach Lionels Tod waren Stellas Art-Deco-Möbel, ihre vielen zeitgenössischen Gemälde, ihre zahllosen Jazz- und Ragtime- und Blues-Schallplatten aus den Räumen an der First Street verschwunden. Was nicht auf dem unermeßlichen Dachboden des Hauses verschwand, wurde auf die Straße

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