Hexenstunde
verschwenderisch im Großen. Das ist der Unterschied zwischen ihr und ihrer Mutter.«
Die Familie war in dieser ganzen Zeit weiterhin besorgt um Antha. Offiziell hieß es, Antha sei »wahnsinnig«; Carlotta gehe ständig mit ihr zu Psychiatern, aber das helfe nicht. Das Kind habe bei dem Mord an der Mutter einen irreparablen Schock erlitten. Es lebe in einer Phantasiewelt voller Geister und unsichtbarer Gefährten. Man könne es nicht unbeaufsichtigt lassen, und es könne nicht aus dem Haus gehen.
Erzählungen aus Juristenkreisen ist zu entnehmen, daß die Verwandtschaft häufig Cortland Mayfair anrief und ihn bat, sich doch einmal um Antha zu kümmern; Cortland aber sei in der First Street nicht mehr willkommen. Nachbarn wollten mehrmals beobachtet haben, daß er abgewiesen wurde.
»Jedes Jahr zu Weihnachten ging er dorthin«, erzählte einer der Nachbarn viel später. »Sein Wagen hielt vor dem Haupteingang, und sein Fahrer sprang heraus und öffnete ihm die Tür, und dann nahm er die Geschenke aus dem Kofferraum. Unmassen von Geschenken. Carlotta kam heraus und gab ihm die Hand auf der Treppe. Er kam nie ins Haus.«
Die Talamasca hat nie irgendwelche Akten von Ärzten gefunden, die Antha untersucht haben. Es ist zu bezweifeln, daß Antha je das Haus verließ, außer um sonntags zur Messe zu gehen. Nachbarn berichteten, sie hätten sie oft im Garten in der First Street sitzen sehen.
Sie las ihre Bücher unter der großen Eiche im hinteren Teil des Grundstücks, oder sie saß stundenlang auf der Seitenveranda, die Ellbogen auf die Knie gestützt.
Ein Mann, der auf der anderen Straßenseite arbeitete, berichtet, er habe gesehen, »daß sie dauernd mit dem Mann redete – Sie wissen schon, mit diesem braunhaarigen Mann. Der ist immer da oben bei ihr. Muß einer der Verwandten sein. Ist immer nett angezogen.«
Als Antha fünfzehn Jahre alt wurde, ging sie manchmal allein zum Tor hinaus. Ein Briefträger sagt, er habe sie oft gesehen, ein dünnes Mädchen mit einem verträumten Blick, das allein und »manchmal mit einem jungen Burschen« durch die Straßen wanderte. Dieser »gutaussehende Bursche« habe dunkelbraunes Haar und braune Augen gehabt und immer Jackett und Krawatte getragen.
»Es hat ihnen Spaß gemacht, mir einen Höllenschreck einzujagen«, erzählte der Milchmann. »Einmal, ich pfiff so vor mich hin und kam bei Dr. Milton in der Second Street zum Tor hinaus – da standen sie vor mir, im Schatten unter der Magnolie; stockstill stand sie da, und er neben ihr. Fast wäre ich in sie reingerannt. Ich glaube, sie tuschelten bloß irgend wie miteinander, und es kann sein, daß ich sie genauso erschreckt habe wie sie mich.«
Unsere Akten enthalten keine Fotos aus dieser Zeit. Aber alle diese und andere Zeugen beschreiben Antha als hübsch.
»Sie hatte diesen abwesenden Ausdruck«, sagte eine Frau, die sie immer in der Kirche sah. »Sie war nicht lebhaft wie Stella; sie schien immer in ihre Träume versunken zu sein – und, um die Wahrheit zu sagen, sie tat mir leid, so ganz allein in diesem Haus mit diesen Frauen. Zitieren Sie mich nicht, aber diese Carlotta ist eine niederträchtige Person. Wirklich. Mein Hausmädchen und meine Köchin wußten genau Bescheid über sie. Sie sagten, sie packte das Mädchen am Handgelenk und bohrte ihr die Fingernägel ins Fleisch.«
Von diesen wenigen Momentaufnahmen abgesehen wissen wir aus den Jahren 1930 bis 1938 buchstäblich nichts über Antha, und wie es aussieht, wußte auch die Familie nicht viel mehr. Aber wir können ohne Zweifel annehmen, daß es sich bei dem »braunhaarigen Mann«, von dem die Rede ist, um Lasher handelt; und wenn das so ist, dann haben wir in dieser Periode mehr Sichtungen Lashers als in allen Jahrzehnten vorher.
Im Jahre 1938 wurden Nachbarn Zeugen eines heftigen Familienstreits in der First Street. Fensterscheiben gingen zu Bruch, es wurde geschrien, und schließlich stürzte eine aufgelöste junge Frau mit einer Schultertasche zum vorderen Tor hinaus und lief in Richtung St. Charles Avenue davon. Ohne Frage handelte es sich um Antha; das wußten sogar die Nachbarn, und sie schauten hinter ihren Gardinen zu, als wenig später ein Polizeiwagen erschien und Carlotta an den Randstein trat, um mit den beiden Polizisten zu sprechen. Gleich darauf fuhr der Streifenwagen unter Sirenengeheul davon, offenbar um das entflohene Mädchen wieder einzufangen.
An diesem Abend erhielten verschiedene Mayfairs In New York Anrufe von Carlotta, und sie
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