Hexenstunde
sagte sie, daß Antha sich je selbst verletzt hätte oder hysterisch geworden sei. Indessen nehme sie ihre Anweisungen von Miss Carlotta entgegen. Miss Carlotta sei gut zu ihrer Familie gewesen. Miss Flanagan wollte ihre Stellung nicht verlieren. »Ich will mich nur um das kleine Baby kümmern«, sagte sie der Polizei. »Das kleine Baby braucht mich doch jetzt.«
Tatsächlich versorgte sie Deirdre Mayfair, bis das Kind fünf Jahre alt war.
Anthas Tod hatte keine wirkliche Untersuchung zur Folge. Eine Obduktion fand nicht statt. Als der Bestattungsunternehmer bei der Untersuchung des Leichnams mißtrauisch wurde und zu dem Schluß kam, daß die Kratzwunden in Anthas Gesicht nicht von eigener Hand stammen konnten, nahm er Kontakt zum Hausarzt der Familie auf und erhielt von ihm den Rat oder die Anweisung, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Antha sei geisteskrank gewesen – das war das inoffizielle Urteil. Ihr Leben lang sei sie eine instabile Persönlichkeit gewesen. Man habe sie ins Bellevue und in die Anstalt von St. Ann’s einweisen müssen. Sie sei davon abhängig gewesen, daß andere für sie und ihr Kind sorgten.
Nach Stellas Tod wurde der Mayfair-Smaragd im Zusammenhang mit Antha nicht mehr erwähnt. Keiner ihrer Verwandten und Freunde berichtete je, ihn gesehen zu haben. Sean Lacy hat Antha nie damit gemalt. Niemand in New York hatte je von ihm gehört.
Aber als Antha starb, trug sie den Smaragd um den Hals.
Die Frage liegt auf der Hand: Warum trug Antha den Smaragd ausgerechnet an diesem Tag? War der Umstand, daß sie ihn trug, für den tödlichen Streit verantwortlich? Und wenn die Kratzspuren in Anthas Gesicht nicht von ihr selbst stammten, hatte dann Carlotta versucht, ihr die Augen auszukratzen? Und wenn ja: Warum?
Wie es auch gewesen sein mag, das Haus in der First Street hüllte sich von neuem in geheimnisvolles Schweigen. Anthas Restaurationspläne wurden nie ausgeführt. Nach wütenden Auseinandersetzungen in den Büroräumen von Mayfair und Mayfair – einmal zerbrach Carlotta beim Hinausstürmen tatsächlich die Glasscheibe in der Tür -, ging Cortland so weit, daß er bei Gericht das Sorgerecht für die kleine Deirdre beantragte. Clay Mayfairs Enkel Alexander meldete sich ebenfalls zu Wort. Er und seine Frau Eileen hatten eine wunderschöne Villa in Metairie. Sie konnten das Kind offiziell adoptieren oder einfach zu sich nehmen – ganz wie es Carlotta beliebte.
Carlotta hätte all diesen »Wohltätern«, wie sie sie nannte, fast ins Gesicht gelacht. Dem Richter und allen Verwandten, die sie danach fragten, erklärte sie, Antha sei schwer krank gewesen. Es handele sich ohne Frage um eine angeborene Geisteskrankheit und könne auch bei Anthas kleiner Tochter leicht wieder zutage treten. Sie habe nicht die Absicht, irgend jemandem zu erlauben, Deirdre aus dem Hause ihrer Mutter zu entfernen oder der reizenden Miss Flanagan oder der lieben, guten Belle oder der lieben Millie wegzunehmen, die das Kind allesamt anbeteten und genug Zeit hätten, tagein, tagaus für es zu sorgen, wie es sonst niemand tun könne.
Als Cortland standhaft blieb, drohte Carlotta ihm unverblümt. Seine Frau habe ihn verlassen, oder? Würde die Familie nicht gern nach all den Jahren einmal erfahren, was für ein Mensch Cortland eigentlich war? Die Verwandten hatten durch ihre Andeutungen etwas zum Nach denken, und der zuständige Richter wurde langsam »ungeduldig«. Seiner Ansicht nach war Carlotta Mayfair eine Frau von makelloser Tugend und ausgezeichneter Urteilskraft. Warum konnte die Familie diese Situation nicht akzeptieren? Herr im Himmel, wenn jedes Waisenkind so nette Tanten wie Millie und Belle und Carlotta hätte, dann hätten wir eine bessere Welt.
So blieb das Vermächtnis in den Händen von Mayfair und Mayfair, und das Kind blieb in den Händen Carlottas. Und der Fall war unvermittelt abgeschlossen.
Nur noch ein einziges Mal unternahm jemand einen Versuch, Carlottas Autorität zu untergraben. Das war 1945.
Cornell Mayfair, einer der New Yorker Verwandten, hatte eben seine Zeit als Assistenzarzt am Massachusetts General Hospital beendet; er wollte Psychiater werden. Von seiner (angeheirateten) Cousine Amanda Grady Mayfair hatte er »unglaubliche Geschichten« über das Haus in der First Street gehört, und ebenso von Louisa Ann Mayfair, Garlands ältester Enkelin, die in Radcliffe studiert und dort ein Verhältnis mit Cornell gehabt hatte. Was war das für ein Gerede von angeborener Geisteskrankheit?
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