Hexenstunde
Cornell war fasziniert. Außerdem war er immer noch verliebt in Louisa Ann, die nach New Orleans zurückgekehrt war, statt ihn zu heiraten und mit ihm in Massachusetts zu leben, und er verstand die Heimattreue des Mädchens nicht. Er wollte New Orleans und die Familie in der First Street besuchen, und die New Yorker Verwandten hielten das für eine gute Idee.
Am 11. Februar kam Cornell nach New Orleans und nahm ein Zimmer in einem Hotel im Zentrum. Er bat Carlotta, ihn zu empfangen, und sie willigte ein.
Wie er Amanda später telephonisch berichtete, war er etwa zwei Stunden im Haus und konnte eine kurze Zeit auch mit der vierjährigen Deirdre allein verbringen. »Ich kann dir nicht sagen, was ich herausgefunden habe«, meinte er. »Aber das Kind muß aus dieser Umgebung heraus. Und offen gesagt möchte ich nicht, daß Louisa Ann da hinein gezogen wird. Ich erzähle dir alles, wenn ich wieder in New York bin.«
Amanda bestand darauf, daß er Cortland anrief und ihm von seinen Sorgen erzählte. Cornell gab zu, daß Louisa Ann das gleiche vorgeschlagen habe.
»Ich will das aber im Moment nicht tun«, sagte er. »Ich habe Carlotta soeben im Überfluß genießen dürfen. Ich möchte heute nachmittag keinem dieser Leute mehr begegnen.«
Im Vertrauen darauf, daß Cortland würde helfen können, rief Amanda ihn selbst an und berichtete, was vor sich ging. Cortland wußte das Interesse des jungen Dr. Mayfair zu schätzen; er rief Amanda noch am selben Nachmittag an und erzählte ihr, daß er sich mit Cornell zum Abendessen verabredet habe. Er werde sich noch einmal melden, wenn sie mit einander gesprochen hätten, aber vorläufig könne er schon sagen, daß ihm der junge Arzt sympathisch sei, und er brenne darauf, zu erfahren, was er zu berichten habe.
Cornell hielt die Verabredung nicht ein. Cortland wartete eine Stunde im Restaurant und rief dann bei Cornell im Hotel an. Er meldete sich nicht. Am nächsten Morgen fand das Zimmermädchen Cornells Leichnam. Er lag vollständig bekleidet auf einem zerwühlten Bett; seine Augen waren halb offen, und auf dem Tisch daneben stand ein halbvolles Glas Bourbon. Die Todesursache war nicht unmittelbar ersichtlich.
Bei der Autopsie fand man in seinem Blut eine kleine Menge eines starken Betäubungsmittels, gemischt mit Alkohol. Man diagnostizierte eine versehentliche Überdosis, und der Fall wurde nie weiter untersucht. Amanda Grady Mayfair verzieh sich niemals, daß sie den jungen Mann nach New Orleans geschickt hatte. Louisa Ann »erholte sich ebenfalls nicht«, und sie ist bis heute unverheiratet. Ein bestürzter Cortland begleitete den Sarg nach New York.
War Cornell ein Opfer der Mayfair-Hexen? Wieder müssen wir gezwungenermaßen zugeben, daß wir es nicht wissen. Eine Kleinigkeit indessen deutet darauf hin, daß er doch nicht an den Folgen des Betäubungsmittels, vermischt mit Alkohol, gestorben ist. Der Leichenbeschauer, der den Toten vor dem Abtransport aus dem Hotelzimmer untersuchte, stellte fest, daß in Cornells Augen zahlreiche Blutgefäße geplatzt waren. Wir wissen heute, daß dies ein Symptom für den Erstickungstod ist. Es kann also sein, daß jemand Cornell außer Gefecht setzte, indem er ihm heimlich die Droge in den Drink schüttete und dann den Wehrlosen mit einem Kissen erstickte.
Als die Talamasca die Untersuchung des Falles wiederaufnehmen wollte, war die Spur längst kalt. Niemand im Hotel konnte sich noch erinnern, ob Cornell Mayfair an diesem Nachmittag irgendwelchen Besuch gehabt hatte. Hatte er den Bourbon beim Zimmerservice bestellt? Danach hatte kein Mensch je gefragt. Fingerabdrücke? Hatte niemand abgenommen. Es handelte sich ja schließlich nicht um einen Mord…
Aber jetzt wird es Zeit, daß wir zu Deirdre Mayfair zurück kehren, der gegenwärtigen Erbin des Mayfair-Vermächtnisses, die mit zwei Monaten zur Waise wurde und in der Obhut ihrer alternden Tanten aufwachsen sollte.
Deirdre Mayfair
Nach Anthas Tod verkam das Haus in der First Street weiter. Der Swimming-pool war inzwischen ein stinkender Tümpel voller Entengrütze und wilder Iris geworden, und aus rostigen Springbrunnentüllen sprudelte grünes Wasser in die Brühe. Die Läden des Schlafzimmers an der Nordseite wurden von neuem verriegelt. Die violett-graue Farbe blätterte weiter vom Mauerwerk.
Die alte Miss Flanagan, im letzten Jahr fast völlig erblindet, kümmerte sich weiter um die kleine Deirdre, bis das Kind fast fünf Jahre alt war. Ab und zu fuhr sie das Baby
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