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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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in einem Korbwagen um den Block, aber sie überquerte niemals die Straße.
    Cortland war inzwischen das Ebenbild seines Vaters Julien geworden. Bilder noch aus den fünfziger Jahren zeigen ihn als hochgewachsenen, schlanken Mann mit schwarzem Haar, das nur an den Schläfen ergraut war. Sein von tiefen Falten durchzogenes Gesicht hatte große Ähnlichkeit mit dem seines Vaters, abgesehen davon, daß seine Augen sehr viel größer waren und eher an Stella erinnerten; aber er hatte Juliens freundliche Miene und häufig auch Juliens fröhliches Lächeln.
    Nach allem, was wir in Erfahrung bringen konnten, liebte ihn seine Familie, seine Angestellten beteten ihn an, und obwohl Amanda Grady Mayfair ihn schon Jahre zuvor verlassen hatte, schien auch sie ihn immer noch zu lieben; zumindest äußerte sie dies Allan Carver gegenüber in einem Gespräch in New York im Jahr vor ihrem Tod. An Allans Schulter weinte sie sich darüber aus, daß ihre Söhne nie verstanden hätten, weshalb sie ihren Vater verlassen habe, und daß sie auch nicht vorhabe, es ihnen zu erklären.
    Was für ein Kind war Deirdre in dieser frühen Periode? Wir wissen es nicht. Über ihre ersten fünf Lebensjahre gibt es keinerlei Berichte, abgesehen davon, daß man sich in Cortlands Familie erzählte, sie sei ein sehr hübsches Mädchen.
    Ihr schwarzes Haar war fein und wellig wie bei Stella. Ihre blauen Augen waren groß und dunkel.
    Aber das Haus in der First Street war für die Außenwelt wieder verschlossen. Eine Generation von Passanten hatte sich inzwischen an die trostlos abweisende und vernachlässigte Fassade gewöhnt. Wieder gelang es Handwerkern nicht, Reparaturen auf dem Grundstück durch zuführen. Ein Dachdecker fiel zweimal von der Leiter und wollte daraufhin seine Arbeit nicht mehr fortsetzen. Nur der alte Gärtner und sein Sohn erschienen bereitwillig hin und wieder, um das von Unkraut durchwucherte Gras zu mähen.
    Die Menschen in der Gemeinde starben nach und nach, und bestimmte Legenden über die Mayfairs starben mit ihnen. Bald erwähnte niemand, den man über die Familie befragte, noch die Namen Julien oder Katherine, Rémy oder Suzette.
    Juliens Sohn Barclay starb 1949, sein Bruder Garland 1951. Cortlands Sohn Grady starb im selben Jahr nach einem Sturz vom Pferd im Audubon Park. Seine Mutter, Amanda Grady Mayfair, verschied kurz darauf, als sei der Tod ihres geliebten Sohnes mehr gewesen, als sie verkraften konnte. Von Pierces beiden Söhnen weiß nur Ryan Mayfair »in der Familiengeschichte Bescheid«, und er unterhält die jüngeren Verwandten – von denen viele gar nichts mehr wissen – oft mit seltsamen Geschichten.
    Irwin Dandrich starb 1952. Aber an seine Stelle war bereits eine andere professionelle »Klatschtante« getreten, eine Frau namens Juliette Milton, die im Laufe der Jahre zahlreiche Geschichten von Beatrice Mayfair und den anderen Verwandten aus der Stadt zusammentragen konnte; viele von ihnen aßen regelmäßig mit ihr zu Mittag und störten sich anscheinend nicht daran, daß sie offenbar eine Klatschbase war, die ihnen alles über jeden und jedem alles über sie erzählte. Wie Dandrich war auch Juliette eigentlich kein boshafter Mensch. Im Gegenteil, sie war anscheinend nicht einmal unfreundlich. Aber sie liebte Melodramatisches und schrieb unglaublich lange Briefe an unsere Anwälte in London, die ihr dafür ein beträchtliches Jahreshonorar zahlten.
    Genau wie Dandrich wußte Juliette nie, für wen sie all diese Informationen über die Mayfairs beschaffte. Zwar brachte sie diese Frage mindestens einmal jährlich zur Sprache, aber sie drängte nie auf eine Antwort.
     
    Zumindest in den ersten Jahren trat Deirdre in die Fußstapfen ihrer Mutter; eine Schule nach der anderen schickte sie wegen ihrer »Possen« und ihres »seltsamen Benehmens«, wegen Störung des Unterrichts und merkwürdiger Weinkrämpfe, die sich nicht abstellen ließen, nach Hause.
    Wieder einmal sah Schwester Bridget Marie, inzwischen schon über sechzig, den »unsichtbaren Freund« auf dem Schulhof von St. Alphonsus in Aktion, wie er für Deirdre verlorene Kleinigkeiten wiederfand oder Blumen durch die Luft fliegen ließ. Der Konvent vom Heiligen Herzen, die Ursulinen, St. Joseph und Unsere Liebe Frau von den Engeln – von all diesen Schulen wurde die kleine Deirdre binnen weniger Wochen verwiesen. Immer wieder blieb das Kind monatelang zu Hause. Nachbarn beobachteten, wie sie »wild« im Garten herumlief oder hinten auf die große Eiche

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