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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Fünfer in die Musicbox warf, um wieder und wieder dasselbe Stück zu hören, eine traurige Gershwin-Melodie, gesungen von Nina Simone. Ich hatte den Eindruck, daß sie ihre Freiheit genoß. Sie las eine Weile, und dann schaute sie umher. Ich merkte, daß ich außerstande war, mich von meinem Stuhl zu erheben und zu ihr zu gehen. Ich verließ die Cafeteria vor ihr und kehrte in mein kleines Hotel in der Stadt zurück.
    Am Nachmittag wanderte ich wieder über den Campus, und als ich mich ihrem Wohnheim näherte, erschien sie plötzlich. Diesmal trug sie ein weißes Kattunkleid mit kurzen Ärmeln, einem wunderbar anschmiegsamen Mieder und einem weiten Glockenrock.
    Wieder spazierte sie anscheinend ziellos umher; diesmal aber bog sie ganz unerwartet in den hinteren Teil des Campus ab und entfernte sich von den sauber gemähten Rasenflächen und dem Publikumsverkehr; unversehens folgte ich ihr in einen weitläufigen, großenteils vernachlässigten botanischen Garten. Das Gelände war so düster, verwildert und überwuchert, daß ich für sie zu fürchten begann, als sie vor mir auf dem unebenen Pfad immer weiterging.
    Endlich verschwanden die fernen Wohnheimgebäude vollends hinter großen Bambusgebüschen, und der Lärm von den noch ferneren Straßen verstummte. Die Luft war hier schwer wie in New Orleans, aber ein bißchen trockener.
    Ich kam einen schmalen Weg herunter und überquerte eine kleine Brücke. Als ich aufblickte, sah ich mich Deirdre gegenüber. Sie stand regungslos unter einem großen, blühenden Baum. Jetzt hob sie ihre rechte Hand und winkte mir, näherzukommen.
    »Mr. Lightner«, sagte sie. »Was wollen Sie?« Ihre Stimme war dunkel und bebte leicht. Sie ließ weder Zorn noch Angst erkennen. Ich konnte ihr nicht antworten. Ich merkte plötzlich, daß sie den Mayfair-Smaragd um den Hals trug. Er mußte unter ihrem Kleid versteckt gewesen sein, als sie aus dem Wohnheim gekommen war.
    Ein leiser Alarm schrillte in meinem Kopf. Ich bemühte mich, etwas Einfaches und Ehrliches und Gedankenvolles zu sagen. Statt dessen sagte ich: »Ich bin Ihnen gefolgt, Deirdre.«
    »Ja«, sagte sie. »Ich weiß.«
    Sie wandte mir den Rücken zu und winkte mir, ihr zu folgen. Dann stieg sie eine schmale, überwucherte Treppe zu einem verwunschenen kleinen Platz hinunter, wo ein paar Zementbänke im Kreis standen, vom Weg aus so gut wie unsichtbar. Der Bambus knisterte leise im Wind. Der Geruch des nahen Tümpels war faulig. Aber die Stelle war von einer unbestreitbaren Schönheit.
    Sie ließ sich auf einer Bank nieder; ihr Kleid leuchtete weiß im Schatten, und der Smaragd blitzte auf ihrer Brust.
    Gefahr, Lightner, warnte ich mich. Du bist in Gefahr.
    »Mr. Lightner«, sagte sie und hob den Kopf, als ich mich gegenüber auf die Bank setzte, »sagen Sie mir einfach, was Sie wollen.«
    »Deirdre, ich weiß vieles«, sagte ich. »Über Sie und Ihre Mutter, über die Mutter Ihrer Mutter und auch über deren Mutter. Historisches, Geheimes, Gerüchte, Genealogien… alles mögliche eigentlich. In einem Haus in Amsterdam hängt das Porträt einer Frau – Ihrer Ahnfrau. Ihr Name war Deborah. Sie war es, die vor Jahrhunderten diesen Smaragd bei einem Juwelier in Holland kaufte.«
    Nichts von all dem schien sie zu überraschen. Sie studierte mich eindringlich, offenbar auf der Suche nach Lügen und bösen Absichten.
    »Deirdre«, sagte ich. »Sagen Sie mir, ob Sie wissen wollen, was ich weiß. Möchten Sie die Briefe eines Mannes lesen, der Ihre Vorfahrin Deborah liebte? Wollen Sie hören, wie sie in Frankreich starb und wie ihre Tochter übers Meer nach Saint Domingue kam? Am Tag ihres Todes ließ Lasher ein Unwetter über das Dorf kommen -«
    Ich brach ab. Es war, als seien die Worte in meinem Mund eingetrocknet. Ihr Gesicht hatte sich erschreckend verändert. Einen Moment lang dachte ich, daß die Wut sie überwältigte. Aber dann sah ich, daß es ein verzehrender innerer Kampf war.
    »Mr. Lightner«, sagte sie leise, »ich möchte das alles nicht wissen. Ich will vergessen, was ich schon weiß. Ich bin hier, um all dem zu entkommen.«
    »Ah.« Mehr fiel mir nicht ein.
    Ich merkte, daß sie ruhiger wurde. Ich war hier der Ratlose. Dann sagte sie: »Mr. Lightner« – ihre Stimme klang nun fest, aber voller Leidenschaft – »meine Tante sagt, Sie studieren uns, weil Sie glauben, daß wir ganz besondere Leute sind. Sie würden aus reiner Neugier dem Bösen in uns helfen, wenn Sie könnten. Nein, Sie dürfen mich nicht

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