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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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nicht einmal eine Handbreit von ihr entfernt, und er starrte mich mit seinen braunen Augen an.
    Ich schrie auf, bevor ich es verhindern konnte. Wie ein Trottel sprang ich auf.
    »Was ist?« rief sie voller Entsetzen. Sie sprang von der Bank auf und stürzte in meine Arme. »Sagen Sie’s mir! Was ist?«
    Er war verschwunden. Ein heißer Windstoß raschelte im turmhohen Bambusgebüsch. Nur Schatten dort, sonst nichts. Nur die wuchernde Enge des Gartens. Und ein langsames Sinken der Temperatur. Als ob die Tür eines Hochofens geschlossen worden wäre.
    Ich schloß die Augen, hielt sie im Arm, so fest ich konnte, bemühte mich, vor lauter Zittern nicht das Bewußtsein zu verlieren und sie zu trösten, während ich zugleich versuchte, mir einzuprägen, was ich gesehen hatte: einen boshaften jungen Mann, der kalt lächelnd hinter ihr gestanden hatte, die Kleidung adrett, dunkel und ohne unnötigen Zierkram, als werde die ganze Energie des Wesens von den funkelnden Augen, den weißen Zähnen und der schimmernden Haut absorbiert. Davon abgesehen, war es der Mann gewesen, den schon so viele beschrieben hatten.
    Deirdre war inzwischen völlig hysterisch. Sie preßte eine Hand auf den Mund, um das Schluchzen zu unterdrücken! Grob stieß sie mich von sich und rannte die kleine, zugewachsene Treppe hinauf zum Weg.
    »Deirdre!« rief ich. Aber sie war schon in der Dunkelheit verschwunden. Zwischen den Bäumen in der Ferne sah ich noch einmal einen weißen Strich, und dann hörte ich nicht einmal mehr ihre Schritte.
    Ich war allein in dem alten botanischen Garten, und es war dunkel, und ich hatte zum erstenmal in meinem Leben Todesangst. Ich hatte solche Angst, daß ich wütend wurde. Ich folgte ihr – oder, besser gesagt, dem Weg, den sie genommen hatte -, und ich zwang mich, nicht zu rennen, sondern mit festem Schritt einen Fuß vor den anderen zu setzen, bis ich schließlich die fernen Lichter der Wohnheime und der Zuliefererstraße dahinter sah; und als ich den Verkehr hörte, fühlte ich mich wieder sicher.
    Ohne Zwischenfälle erreichte ich mein Hotel, ging auf mein Zimmer und rief London an. Es dauerte eine Stunde, bis ich die Verbindung bekam; ich lag einstweilen auf dem Bett, und ich konnte immer nur denken: Ich habe ihn gesehen. Ich habe den Mann gesehen. Ich habe gesehen, was Petyr gesehen hat und was Arthur gesehen hat. Ich habe mit eigenen Augen Lasher gesehen.
    Scott Reynolds, unser Direktor, zeigte sich ruhig, aber unerbittlich. »Verschwinde sofort von da. Komm nach Hause.«
    »Tief durchatmen, Scott. Ich bin nicht so weit gereist, um mich dann von einem Geist verscheuchen zu lassen, den wir seit drei Jahrhunderten aus der Ferne studieren.«
    »So beurteilst du die Sache, Aaron? Du, der du die Geschichte der Mayfair-Hexen von Anfang an kennst? Das Wesen versucht doch nicht, dich zu verscheuchen. Es versucht, dich zu locken. Es will, daß du das Mädchen mit deinen Fragen quälst. Es verliert sie, und durch dich kann es hoffen, sie zurück zu bekommen. Die Tante – was immer sie sonst sein mag – ist der Wahrheit auf der Spur. Du bringst das Mädchen dazu, dir zu erzählen, was sie durchgemacht hat, und damit gibst du dem Geist die Energie, die er braucht.«
    »Ich verstehe, was du meinst, Scott. Aber das Mädchen wird den Kampf alleine nicht gewinnen können. Ich gehe zurück nach New Orleans. Ich will zur Stelle sein, wenn sie mich braucht.«
    Scott war kurz davor gewesen, mir die Abreise zu befehlen, als ich meine Position ins Feld führte. Ich war älter als er. Ich hatte die Ernennung zum Direktor abgelehnt. Deshalb hatte er sie bekommen. Ich würde mir nicht befehlen lassen, den Fall auf sich beruhen zu lassen.
    Am nächsten Tag hinterließ ich für Deirdre die Nachricht, daß ich im Royal Court in New Orleans zu finden sein würde. Mit einem Mietwagen fuhr ich nach Dallas, und dort nahm ich den Zug nach New Orleans. Die Fahrt dauerte acht Stunden, und ich schrieb während der ganzen Zeit in mein Tagebuch.
    Ausführlich bedachte ich, was geschehen war. Das Mädchen hatte ihrer eigenen Geschichte und ihren übersinnlichen Kräften widersagt. Ihre Tante hatte sie dazu erzogen, den Geist – Lasher – zurück zu stoßen. Seit Jahren kämpfte sie offensichtlich auf verlorenem Posten. Aber wenn wir ihr nun halfen? Würde sich die Kette der Vererbung durch brechen lassen? Würde der Geist die Familie verlassen wie einer, der aus einem brennenden Haus hinausfährt, in dem er jahrelang gespukt hat?
    Noch während

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