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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Religionsfanatiker wurde, daß man ihn den ganzen Tag an einen Pfosten binden mußte, und über Onkel Timothy, der von der Linotype-Druckfarbe verrückt wurde, die Ritzen an Türen und Fenstern mit Zeitungspapier zustopfte und seine Zeit damit verbrachte, Tausende und Abertausende kleine Papierpuppen auszuschneiden.
    Und was war mit der schönen Tante Lelia, die als junges Mädchen einen italienischen Jungen geliebt hatte und bis ins hohe, welke Alter nicht wußte, daß ihre Brüder den Jungen eines Abends zusammengeschlagen und aus dem Irish Channel vertrieben hatten. Kein »Spaghetti« für ihre Schwester. Ihr ganzes langes Leben lang hatte sie um den Jungen getrauert, und rasend vor Wut warf sie den Abendbrottisch um, als sie es ihr erzählten.
    Sogar einige der Nonnen hatten fabelhafte Geschichten zu erzählen gehabt – die alten wie Schwester Bridget Marie, die zwei Wochen lang als Vertretung gearbeitet hatte, als Michael in die achte Klasse gegangen war, eine wirklich reizende kleine Nonne, die immer noch mit irischem Akzent sprach. Beigebracht hatte sie ihnen überhaupt nichts, aber Geschichten hatte sie erzählt – über den irischen Geist von Petticoat Loose und von Hexen – Hexen, man stelle sich vor! – im Garden District.
    All das kam ihm in den seltsamsten Augenblicken ins Gedächtnis. Dann erinnerte er sich an den Geruch von Leinenservietten, wenn seine Großmutter sie bügelte, ehe sie sie in den tiefen Schubladen der Walnußkommode verstaute. Er erinnerte sich an den Geschmack von Krabben-Gumbo mit Crackers und Bier und an das furchterregende Dröhnen der Trommeln an den Paraden zu Mardi Gras. Er sah den Eismann vor sich, wie er die Hintertreppe heraufhastete, den riesigen Eisblock auf der wattierten Schulter. Und immer wieder diese wunderbaren Stimmen, die ihm damals so rauh vorgekommen waren, jetzt aber ein so reiches Vokabular, ein Faible für die dramatische Phrase, eine reine Liebe zur Sprache zu besitzen schienen.
    Im Rückblick erschien es wie eine großartige Welt. In Kalifornien war manchmal alles so antiseptisch. Überall die gleichen Kleider, die gleichen Autos, die gleichen Anliegen. Vielleicht gehörte Michael eigentlich gar nicht hierher. Vielleicht würde er nie hierher gehören. Aber dort unten gehörte er ganz gewiß auch nicht hin. Er hatte die Stadt ja schon all die Jahre nicht mehr gesehen…
    Er bereute, daß er damals nicht besser zugehört hatte. Zuviel Angst hatte er gehabt. Gern hätte er jetzt mit seinem Dad geredet, mit ihm und all den anderen verrückten Feuerwehrleuten vor der Feuerwache an der Washington Avenue gesessen.
    Und dann der Garden District – ah, der Garden District. Seine Erinnerungen daran waren so himmlisch, daß es schon suspekt war.
    Manchmal träumte er davon – von einem warm leuchtenden Paradies, wo er zwischen prachtvollen Palästen umherwanderte, umgeben von ewig blühenden Blumen und schimmernden grünen Blättern. Dann wachte er auf und dachte: Ja, ich war wieder da, bin durch die First Street spaziert. Ich war zu Hause. Aber in Wirklichkeit konnte es doch so nicht mehr aussehen, eigentlich nicht, und dann wollte er alles wiedersehen.
    Er erinnerte sich sogar an Leute, die er bei seinen regelmäßigen Spaziergängen oft gesehen hatte, alte Männer in Baumwollkreppanzügen und Strohhüten, Ladys mit Spazierstöcken, schwarze Schwestern in frischen blauen Baumwolluniformen, die Kinderwagen mit weißen Babys vor sich herschoben. Und an diesen Mann, diesen seltsamen, makellos gekleideten Mann, den er so oft gesehen hatte, in dem tiefen, wildwuchernden Garten an der First Street.
    Er wollte gern zurück, um die Erinnerung mit der Wirklichkeit zu vergleichen. Er wollte das kleine Haus in der Annunciation Street sehen, in dem er aufgewachsen war. Er wollte St. Alphonsus sehen, wo er mit zehn Jahren ministriert hatte. Und St. Mary auf der anderen Straßenseite mit den gotischen Bögen und den Heiligen aus Holz, wo er ebenfalls Meßdiener gewesen war. Ob die Deckengemälde in St. Alphonsus wirklich so hübsch waren?
    Manchmal, beim Einschlafen, sah er sich wieder in dieser Kirche, am Heiligen Abend, wenn sich die Leute zur Mitternachtsmette drängten. Kerzen loderten auf den Altären. Er hörte das euphorische Kirchenlied »Adeste fideles«. Heiligabend, wenn der Regen in Böen zu den Türen hereinwehte… und später, zu Hause, wenn der kleine Christbaum in der Ecke leuchtete und die Gasheizung hinter dem Gitter toste. Wie schön diese winzigen blauen

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