Hexenstunde
Flämmchen gewesen waren. Wie schön auch der kleine Baum mit seinen Lichtern, die das Licht der Welt bedeuteten, und mit seinem Schmuck, der die Gaben der Drei Weisen versinnbildlichte, und mit seinen grün duftenden Zweigen, die für die Verheißung des Sommers selbst in tiefster Winterskälte standen.
Die Erinnerung an die Prozession in einer Mitternachtsmette erwachte; die kleinen Mädchen der ersten Klasse waren als Engel verkleidet durch den Altarraum und den Mittelgang gekommen. Er roch die Weihnachtszweige, deren Duft sich mit der Süße der Blumen und des brennenden Wachses vermischte. Die kleinen Mädchen hatten vom Christkind gesungen. Er sah Rita Mae Dwyer und Marie Louise Guidry und seine Cousine Patricia Anne Becker und all die anderen kleinen Nervensägen, die er kannte – aber wie schön sie ausgesehen hatten in ihren kleinen weißen Gewändern mit den steifen Stoffflügeln. Nicht mehr wie kleine Monster, sondern wie echte Engel.
Prozessionen. Es hatte so viele gegeben. Die zu Ehren der Jungfrau Maria hatten ihm freilich eigentlich nie gefallen. Sie hatten ihn zu sehr an die niederträchtigen Nonnen erinnert, die den Jungen so viel angetan hatten, und er war deshalb nie ganz mit dem Herzen dabei gewesen, was ihn betrübt hatte, bis er alt genug gewesen war, um sich darum nicht weiter zu scheren.
Aber Weihnachten konnte er nie vergessen. Es war das eine Überbleibsel seiner Religion, das ihn nie verließ. Ja, auch in Kalifornien war der Weihnachtsabend der Tag, den Michael heilig hielt. Er feierte ihn immer, wie andere Silvester feierten – für ihn war es das Symbol eines neuen Anfangs: Die Zeit erlöste den Menschen mit all seinen Unzulänglichkeiten, und er konnte noch einmal von vorn beginnen. Selbst wenn er allein war, saß er mit seinem Glas Wein bis Mitternacht auf, und der kleine Lichterbaum war die einzige Beleuchtung im Zimmer. Und an jenem letzten Weihnachtsfest hatte es geschneit – ausgerechnet geschneit -, und sanft und lautlos war der Schnee im Wind gefallen, vielleicht gerade in dem Augenblick, als sein Vater durch das Dach des brennenden Lagerschuppens in der Tchoupitoulas Street gestürzt war.
Irgend wie fügte es sich, daß Michael dann doch nie nach Hause fuhr. Er kam einfach nicht dazu. Er kämpfte dauernd damit, Aufträge fertig zu stellen und Termine einzuhalten. Und den wenigen Urlaub, den er hatte, verbrachte er in Europa oder in New York, wo er die großen Denkmäler und Museen abgraste. Seine diversen Geliebten wollten es im Laufe der Jahre immer so. Wer hatte schon Lust auf Mardi Gras in New Orleans, wenn er nach Rio fliegen konnte? Wieso in die Südstaaten, wenn man nach Südfrankreich konnte?
Aber obwohl Michael nun alles erreicht hatte, was er sich bei seinen Spaziergängen im alten Garden District gewünscht hatte, gab es Augenblick, in denen er sich leer fühlte? Wo ihm zumute war, als ob er auf etwas wartete, auf etwas von extremer Wichtigkeit, ohne zu wissen, was?
Im Laufe der Jahre hatte Michael etliche Affären, und mindestens zwei davon waren wie Ehen. In beiden Fällen waren es Jüdinnen russischer Abkunft, leidenschaftlich, spirituell, brillant, unabhängig. Und jedesmal erfüllte Michael ein schmerzhafter Stolz auf diese beiden vornehmen und cleveren Ladys. Solche Affären wurzelten in Gesprächen ebenso wie in der Sinnlichkeit. Reden die ganze Nacht, wenn man miteinander geschlafen hatte, reden bei Pizza und Bier, reden, wenn die Sonne aufging – so hatte Michael es mit seinen Geliebten immer gehalten.
Er lernte viel aus diesen Beziehungen. Seine selbstverständliche Offenheit wirkte höchst verführerisch auf diese Frauen, und er sog ziemlich mühelos auf, was immer sie zu lehren hatten. Sie liebten es, mit ihm nach New York oder an die Riviera oder nach Griechenland zu reisen und seinen bezaubernden Enthusiasmus und sein tiefes Empfinden für das, was er dort wahrnahm, zu sehen. Sie teilten ihre Lieblingsmusik mit ihm, ihre Lieblingsmaler, ihre Lieblingsspeisen, ihre Vorstellungen von Möbeln und Kleidern. Elizabeth brachte ihm bei, wie man einen richtigen Brooks-Brothers-Anzug und Paul-Stewart-Hemden kaufte. Judith ging mit ihm zu Bullock & Jones, wo er seinen ersten Burberry bekam, und in schicke Salons, wo er sich richtig die Haare schneiden ließ, und sie lehrte ihn, wie man europäischen Wein bestellte und wie man Pasta kochte und warum barocke Musik genausogut war wie die klassische, die er so sehr liebte.
Er lachte über all das, aber er
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