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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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zweiunddreißig erwarb er ein altehrwürdiges Stadthaus in der Liberty Street, restaurierte es von Grund auf und schuf Wohnungen für seine Mutter und seine Tante. Er selbst wohnte ganz oben mit Blick auf die Lichter der Stadt, genau in dem Stil, den er sich immer gewünscht hatte. Die Bücher, die Spitzengardinen, das Klavier, die schönen Antiquitäten – das alles besaß er jetzt. An der Hangseite baute er eine große Veranda an, wo er sitzen und die launische Sonne von Kalifornien in sich aufsaugen konnte. Der ewige Nebel der Küste war oft schon verdunstet, ehe er seinen Bezirk erreichen konnte. Und so hatte er – wie es schien – nicht nur den Luxus und die Eleganz eingefangen, die er vor so vielen Jahren im Süden von ferne gesehen hatte, sondern auch ein bißchen von der Wärme und dem Sonnenschein, den er in so liebevoller Erinnerung hatte.
    Mit fünfunddreißig Jahren war er ein gemachter Mann, und ein gebildeter dazu. Er hatte seine erste Million verdient und in einem Portfolio von Kommunalobligationen angelegt. Und er liebte San Francisco, denn er hatte das Gefühl, die Stadt habe ihm alles gegeben, was er sich je gewünscht hatte.
    Obgleich Michael es jetzt geschafft hatte und sein Image das eines kultivierten Mannes war, blieb ein Teil seiner selbst doch immer dieser zähe Bengel aus dem Irish Channel, der von Kindheit an ein Stück Brot benutzt hatte, um sich die Erbsen vom Teller auf die Gabel zu schieben.
    Er gewöhnte sich seinen rauhen Akzent nie restlos ab, und manchmal, wenn er auf der Baustelle mit Arbeitern zu verhandeln hatte, verfiel er wieder vollends hinein. Auch einige seiner kruden Ideen und Angewohnheiten verlor er nie, und er wußte das wohl.
    Seine Art, mit all dem umzugehen, war genau die richtige für Kalifornien. Er verleugnete seine Herkunft nie. Sie war schließlich ein Teil von ihm. Er dachte sich nichts dabei, zu fragen: »Wo sind Fleisch und Kartoffeln?«, wenn er in irgendein schickes Restaurant der Nouvelle Cuisine kam. Und beim Sprechen ließ er die filterlose Zigarette an den Lippen kleben, wie schon sein Vater es getan hatte.
    Mit seinen liberalen Freunden kam er vor allem deshalb zurecht, weil er sich nicht die Mühe machte, mit ihnen zu streiten, und während sie beim Bier lautstark über Länder diskutierten, in denen sie nie gewesen waren und in die sie nie fahren würden, malte er Bilder von Häusern auf eine Serviette.
    Aber ungeachtet aller Diplomatie verstand er sich am besten immer mit denen, die eine ebensolche Lebensart verspürten wie er – mit Handwerkern, Künstlern, Musikern: Menschen, die von einer Sache besessen waren. Sie schienen sein grenzenloses Verlangen nach einem sinnvollen Leben und danach, die Welt – und sei es auch nur in kleinem Maßstab – mit seinen Visionen zu verändern, wirklich zu verstehen. Er träumte davon, große Häuser zu bauen, ganze Cityblocks umzuwandeln, in den alten Vierteln von San Francisco ganze Enklaven von Cafés, Buchhandlungen und Gasthäusern zu erschließen.
    Ab und zu, vor allem nach dem Tode seiner Mutter, dachte er wohl an die Vergangenheit in New Orleans, die ihm jedesmal unwirklicher und phantastischer vorkam. Die Leute in Kalifornien hielten sich für frei, aber was waren sie doch für Konformisten, überlegte er. Jeder, der aus Kansas oder Detroit oder New York hierher kam, strebte doch die gleichen liberalen Ideen an, den gleichen Stil in Denken, Kleidung und Gefühl. Ja, manchmal war dieser Konformismus regelrecht lachhaft. Seine Freunde sagten tatsächlich Sachen wie »Ist das nicht der, den wir diese Woche boykottieren wollten?« oder »Soll man da nicht dagegen sein?«
    Zu Hause hatte er vielleicht eine Stadt von Bigotten hinter sich gelassen, aber es war auch eine Stadt von Charakteren. Die alten Geschichtenerzähler vom Irish Channel klangen ihm noch in den Ohren. Und was für Charaktere seine Onkel gewesen waren, diese alten Männer, die einer nach dem anderen gestorben waren, während er aufgewachsen war. Er hörte sie noch davon reden, wie sie den Mississippi durchschwommen hatten, einmal ans andere Ufer und wieder zurück (was zu Michaels Zeiten kein Mensch tat), und wie sie betrunken von den Lagerschuppen ins Wasser gesprungen waren und wie sie große Paddel an die Pedale ihrer Fahrräder gebunden hatten, um damit im Wasser zu fahren.
    Alles, so schien es, war eine Geschichte gewesen. Die Sommernächte waren voll von Erzählungen über Cousin Jamie Joe Curry in Algier, der ein solcher

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