Hexenstunde
Zeit begriff er, daß die Werte seiner Mutter im wesentlichen diejenigen der sehr Reichen waren, auch wenn sie selbst das nicht wußte. Sie schaute sich ausländische Filme an, weil es ihr Spaß machte, nicht zur kulturellen Erbauung. Sie wollte, daß Michael zum College ging, weil es sich so »gehörte«. Für sie war es völlig natürlich, bei »Young Man’s Fancy« einzukaufen und ihm die V-Ausschnitt-Pullover und Buttondown-Hemden zu kaufen, in denen er aussah wie ein Schuljunge. Aber über die Beweggründe und Ambitionen der Mittelklasse wußten sie und ihre Geschwister im Grunde gar nichts. Ihre Arbeit gefiel ihr, weil sie im feinsten Geschäft der Stadt angestellt war und weil sie dort netten Leuten begegnete. In ihren Mußestunden trank sie wachsende Mengen von Wein, las ihre Romane, besuchte Freunde und war ein glücklicher und zufriedener Mensch.
Es war der Wein, der sie am Ende umbrachte. Die Jahre vergingen, und sie wurde zu einer damenhaften Säuferin, die den ganzen Abend hinter verschlossener Tür aus einem kristallenen Glas trank und unweigerlich die Besinnung verlor, bevor es Schlafenszeit war. Schließlich schlug sie eines späten Abends bei einem Sturz im Badezimmer mit dem Kopf auf, wickelte sich ein Handtuch um die Wunde und legte sich ins Bett, ohne zu merken, daß sie langsam verblutete. Sie war kalt, als Michael am Morgen die Tür aufbrach. Das war in dem Haus in der Liberty Street, das Michael gekauft und für die Familie restauriert hatte, obgleich Onkel Michael inzwischen auch gestorben war – ebenfalls am Alkohol, auch wenn man hier von einem Schlaganfall gesprochen hatte.
Michaels Ehrgeiz war grenzenlos, als er im Herbst endlich das Studium am San Francisco State College aufnahm.
Hier, auf dem riesigen Campus inmitten von Studenten aus allen Gesellschaftsschichten, fühlte Michael sich unauffällig und gleichzeitig mächtig und bereit, mit seiner wahren Ausbildung zu beginnen. Es war wie in den alten Zeiten in der Bibliothek, nur zahlte sich jetzt aus, was er las. Es zahlte sich aus, daß er alle Geheimnisse des Lebens verstehen wollte, die ihn in den vergangenen Jahren, da er seine Neugier vor denen, die sich über ihn lustig machen würden, verborgen hatte, so sehr gereizt hatten.
Er konnte sein Glück kaum fassen. Er wanderte von Seminar zu Seminar, genoß die Anonymität inmitten der umfangreichen proletarischen Studentenschaft mit ihren schweren Schuhen und Rucksäcken und lauschte hingerissen den Vorlesungen seiner Professoren und den schwindelerregend cleveren Fragen der Studenten ringsum. Er würzte seinen Stundenplan mit Wahlveranstaltungen über Kunst, Musik, Gemeinschaftskunde, vergleichende Literaturwissenschaft und sogar Theater, und allmählich erlangte er eine echte, altmodische klassische Bildung.
Als Hauptfach wählte er schließlich Geschichte, weil er in diesem Fach gut war, weil er die Arbeiten schreiben und die Klausuren bestehen konnte, und weil er wußte, daß sein jüngster Ehrgeiz – Architekt zu werden – unerfüllbar bleiben würde. Er schaffte den mathematischen Teil der Ausbildung nicht, so sehr er sich auch bemühte. Und trotz all seiner Anstrengungen erreichte er die Zensuren nicht, die für die Zulassung zum vierjährigen Studium an der Fakultät für Architektur erforderlich waren. Geschichte liebte er, weil es eine Gesellschaftswissenschaft war, bei der man von der Welt zurücktrat, um heraus zu finden, wie sie funktionierte. Genau das war es, was Michael schon als kleiner Junge im Irish Channel getan hatte.
Michael war mehr als zufrieden. Als das Geld aus der Versicherung zur Neige ging, fand er einen Teilzeitjob bei einem Zimmermann, der darauf spezialisiert war, die schönen alten viktorianischen Häuser von San Francisco zu restaurieren. Er fing wieder an, Bücher über Häuser zu studieren, wie er es früher getan hatte.
Als er sein Bakkalaureat erwarb, hätten seine alten Freunde aus New Orleans ihn nicht wiedererkannt. Er hatte zwar noch immer die Figur eines Footballspielers, die breiten Schultern und den massigen Brustkorb, und die Zimmermannsarbeit hielt ihn gut in Form. Aber er trug jetzt eine dunkelgeränderte Brille zum Lesen, und seine Kleidung bestand meist aus dicken Strickpullovern und Donegal-Tweedsakkos mit Lederflecken auf den Ellbogen. Er rauchte sogar eine Pfeife, die er immer in der rechten Jackentasche aufbewahrte.
Mit einundzwanzig Jahren hämmerte er ebenso gewandt an einem Holzfachwerkhaus herum, wie er mit zwei
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