Hexenstunde
Carlotta leitete alles in die Wege.
»Mein Großvater war empört, als er von der Adoption erfuhr«, sagte Ryan Mayfair viele Jahre später. »Er wollte mit Deirdre sprechen, wollte aus ihrem eigenen Munde hören, daß sie das Kind abgeben wollte. Aber er kam immer noch nicht in das Haus in der First Street hinein. Schließlich ging er zu Pater Lafferty, dem Gemeindepriester, aber den hatte Carlotta in der Tasche. Der Priester war eindeutig auf Carlottas Seite.«
Alles das klingt äußerst tragisch. Es klingt, als wäre Deirdre dem Fluch der First Street beinahe entronnen, wenn nur der Vater ihres Babys, der aus Texas herunterkam, um sie zu heiraten, nicht gestorben wäre. Noch jahrelang machte diese traurige Skandalgeschichte in der Redemptoristengemeinde die Runde. Noch 1988 habe ich sie von Rita Mae Lonigan gehört. Alles deutet darauf hin, daß Pater Lafferty die Geschichte des texanischen Kindsvaters glaubte. Und zahllose Berichte lassen vermuten, daß auch die Verwandten sie glaubten. Beatrice Mayfair glaubte sie. Pierce Mayfair glaubte sie. Sogar Rhonda Mayfair und ihr Mann, Ellis Clement, scheinen sie geglaubt zu haben.
Aber die Geschichte stimmte nicht.
Beinahe von Anfang an schüttelten unsere Detektive verwundert die Köpfe. Ein College-Professor und Deirdre Mayfair? Wer hätte das sein sollen? Man beobachtete Deirdre ständig, und es war ausgeschlossen, daß es sich bei dem verheirateten Mann um Rhonda Mayfairs Ehemann Ellis handelte. Er kannte Deirdre kaum.
Tatsächlich gab es überhaupt keinen Mann in Denton, Texas, der mit Deirdre Mayfair ausgegangen oder irgendwann einmal in ihrer Gesellschaft gesehen worden wäre. Und kein College-Professor dieser oder irgendeiner anderen Schule in der Gegend starb bei einem Autounfall auf der Uferstraße in Louisiana. Ja, soweit wir wissen, starb dort 1959 überhaupt niemand bei einem solchen Unfall.
Verbarg sich hinter dieser Lüge also eine noch skandalösere und tragischere Geschichte? Wir brauchten eine ganze Weile, bis wir die Mosaiksteinchen zusammengefügt hatten. Als wir von dem Autounfall auf der Uferstraße erfuhren, waren die rechtlichen Vorbereitungen für die Adoption von Deirdres Baby bereits abgeschlossen. Als wir erfuhren, daß es diesen Unfall nicht gegeben hatte, war die Adoption vollzogen.
Aus Gerichtsakten geht hervor, daß Ellie Mayfair irgendwann im August nach New Orleans flog, um in Carlotta Mayfairs Büro die Adoptionspapiere zu unterzeichnen; anscheinend wußte allerdings seinerzeit niemand aus der Familie von ihrem Besuch.
Graham Franklin, Ellies Ehemann, erzählte einem seiner Geschäftspartner Jahre später, die ganze Adoption sei ein rechtes Durcheinander gewesen. »Meine Frau sprach danach überhaupt nicht mehr mit ihrem Großvater. Er wollte nicht, daß wir Rowan adoptierten. Zum Glück starb der alte Halunke, bevor das Baby zur Welt kam.«
Was ging in all den Monaten hinter den Kulissen der First Street vor sich? Wir drängten unsere Detektive, heraus zufinden, soviel sie konnten. Unseres Wissens gab es nur eine einzige Person, die Deirdre in den letzten Monaten ihres »Hausarrestes« sah – denn als solchen könnte man ihren Aufenthalt in der First Street in jenen Tagen bezeichnen -, aber diese Person interviewten wir erst 1988.
Der Hausarzt damals kam und ging schweigend, genauso die Schwester, die Deirdre acht Stunden täglich versorgte.
Pater Lafferty sagte, das Mädchen habe sich mit der Adoption abgefunden. Beatrice Mayfair teilte man mit, sie könne Deirdre nicht sehen, als sie zu Besuch kam; sie trank aber ein Glas Wein mit Millie Dear, die bei dieser Gelegenheit sagte, das Ganze sei wirklich herzzerreißend.
Am 1. Oktober war Cortland vor lauter Sorge der Verzweiflung nahe. Seine Sekretärin berichtet, er habe Carlotta immer wieder angerufen; er sei mit dem Taxi zur First Street gefahren und dort immer wieder abgewiesen worden. Schließlich, am Nachmittag des 20. Oktober, verkündete er seiner Sekretärin, er werde jetzt in das Haus gehen, um seine Nichte zu sehen, und wenn er dazu die Tür einschlagen müsse.
An diesem Nachmittag um fünf fand eine Nachbarin ihn auf dem Bordstein an der Ecke First und Chestnut Street sitzend; seine Kleider waren zerrissen, und er blutete aus einer Wunde am Kopf.
»Rufen Sie mir einen Krankenwagen«, sagte er. »Er hat mich die Treppe hinuntergeworfen.«
Die Nachbarin blieb bei ihm sitzen, bis der Krankenwagen kam, aber er sagte kein weiteres Wort. Von der First Street
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