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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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brachte man ihn eilends ins nahegelegene Touro-Krankenhaus. Der diensthabende Arzt stellte schnell fest, daß er von schweren Blutergüssen übersät war; sein Handgelenk war gebrochen, und er blutete aus dem Mund. »Der Mann hat innere Verletzungen«, diagnostizierte der Arzt und rief unverzüglich Unterstützung herbei.
    Da packte Cortland seine Hand und befahl dem Arzt, zuzuhören: Es sei sehr wichtig, daß man Deirdre Mayfair helfe, denn sie werde in ihrem eigenen Haus gefangengehalten. »Sie nehmen ihr gegen ihren Willen das Baby weg. Helfen Sie ihr!« Dann war Cortland tot.
    Bei einer oberflächlich vorgenommenen Autopsie fanden sich massive innere Blutungen und die Spuren schwerer Schläge auf den Kopf. Der junge Arzt drängte auf polizeiliche Ermittlungen, aber Cortlands Söhne brachten ihn sofort zum Schweigen: Sie hätten mit ihrer Cousine Carlotta Mayfair gesprochen, der Vater sei die Treppe hinunter gefallen und habe jegliche medizinische Hilfe abgelehnt; er habe das Haus aus eigenem Antrieb verlassen. Carlotta habe sich nicht träumen lassen, daß er so schwer verletzt sei. Sie habe nicht gewußt, daß er auf dem Bordstein saß. Sie sei außer sich vor Trauer. Die Nachbarin hätte läuten müssen.
    Auf Cortlands Beerdigung bekam die Familie die gleiche Geschichte zu hören. Während Miss Millie und Miss Belle ruhig im Hintergrund saßen, erzählte Cortlands Sohn Pierce jedem, Cortland sei nicht ganz klar im Kopf gewesen, als er der Nachbarin gegenüber irgendeine vage Aussage über einen Mann gemacht habe, der ihn die Treppe hinunter geworfen habe. In dem Haus in der First Street sei kein Mann gewesen, der so etwas hätte tun können. Carlotta selbst habe ihn fallen sehen. Nancy ebenfalls – sie habe sogar versucht, ihn aufzufangen, doch vergebens.
    Was die Adoption anging, so stand Pierce entschlossen dahinter. Seine Nichte Ellie würde dem Kind genau die Umgebung bieten, die es brauchte, um alle Chancen zu haben. Es war tragisch, daß Cortland gegen die Adoption gewesen war, aber Cortland war achtzig Jahre alt gewesen. Seine Urteilskraft war schon seit einer Weile beeinträchtigt.
    So nahm das Begräbnis in all seinem Pomp und ohne Zwischenfälle seinen Fortgang; allerdings erinnerte sich der Bestattungsunternehmer einige Jahre später, daß etliche der Verwandten, ältere Herren, die während Pierces »kleiner Rede« ganz hinten im Raum gestanden hatten, untereinander bittere und sarkastische Scherze gemacht hatten. »Aber was denn, da ist doch gar kein Mann im Haus«, hatte einer gesagt. »Neeeeiin, üüüüberhaupt nicht. Nur diese netten alten Damen.« »Ich habe da noch nie einen Mann gesehen. Du etwa?« Und so ging es immer weiter. »Nein. Kein Mann in der First Street. No, Sir!«
    Wenn Verwandte Deirdre besuchen wollten, bekamen sie mehr oder weniger die gleiche Geschichte zu hören, die Pierce auf der Beerdigung erzählt hatte. Deirdre sei zu krank, um sie zu empfangen. Sie habe nicht einmal Cortland sehen wollen, so krank sei sie. Und sie wisse nicht, daß Cortland tot sei, und dürfe es auch nicht wissen.
    Heute deuten die Familienlegenden darauf hin, daß alle die Adoption übereinstimmend für das Beste hielten. Cortland hätte sich heraushalten sollen. Ryan Mayfair, Cortlands Enkel, sagt: »Die arme Deirdre war für die Mutterschaft so gut geeignet wie die Irre von Chaillot. Aber ich glaube, mein Großvater fühlte sich verantwortlich. Er hatte Deirdre nach Texas gebracht. Ich glaube, er machte sich Vorwürfe. Er wollte sicher sein, daß sie das Baby wirklich weggeben wollte. Aber was Deirdre wollte, war vielleicht nicht das Wichtigste.«
    Zu jener Zeit graute mir vor jeder neuen Nachricht aus Louisiana. Nachts lag ich im Mutterhaus in meinem Bett und dachte unaufhörlich an Deirdre, und ich fragte mich, ob es nicht irgendeine Möglichkeit für uns gab, heraus zu finden, was sie wirklich wollte und fühlte. Scott Reynolds war unerbittlicher denn je: Wir durften nicht wieder intervenieren. Deirdre wußte, wie sie uns erreichen konnte. Cortland ebenfalls. Carlotta Mayfair auch – was immer das wert sein mochte. Es gab nichts, was wir noch tun konnten.
    Erst im Januar 1988, dreißig Jahre später, erfuhr ich in einem Gespräch mit Deirdres alter Schulfreundin, Rita Mae Dwyer Lonigan, daß Deirdre verzweifelt versucht hatte, mich zu erreichen, und es nicht geschafft hatte. Mir brach es schier das Herz, als ich von Deirdres vergeblichem Hilferuf hörte. Es brach mir das Herz, an all die

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