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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Anrufe nicht mehr entgegen. Das jedenfalls erzählte sie in den nächsten Monaten jedem an der Universität.
    Wir haben nie erfahren können, was genau zwischen Rowan und Lemle vorgefallen ist. Allem Anschein nach fand Rowan sich im Frühjahr 1984 noch einmal bereit, sich mit ihm zum Lunch zu treffen. Zeugen sahen sie in der Cafeteria der Klinik, wo sie eine heftige Auseinandersetzung führten. Eine Woche später wurde Lemle in die Keplinger-Privatklinik eingeliefert, weil er einen leichten Schlaganfall erlitten hatte. Es folgte ein zweiter und ein dritter, und binnen eines Monats war er tot.
    Unseres Wissens hat niemand einen Zusammenhang zwischen Lemles Tod und Rowan gesehen. Wir indessen sehen ihn.
    Was immer zwischen Rowan und ihrem Mentor – wie sie ihn vor ihrem Streit häufig nannte – vorgefallen sein mag, jedenfalls entschied sie sich kurz danach für die Neurochirurgie und begann nach ihrer regulären Assistentenzeit 1985, ausschließlich am Gehirn zu operieren. Zur Zeit dieser Niederschrift beendet sie eben ihre neurochirurgische Facharztausbildung, und sie wird zweifellos ihre Approbation erhalten und binnen eines Jahres eine Anstellung an der Universitätsklinik.
    Wir kennen Geschichten im Überfluß darüber, wie sie auf dem OP-Tisch Leben gerettet hat, über ihre gespenstische Fähigkeit, schon in der Notaufnahme zu wissen, ob ein Patient die Operation überleben wird, und darüber, wie sie Axtverletzungen, Schußwunden und Schädelbrüche nach Stürzen und Autounfällen zusammengeflickt hat. Sie ist ruhig und geschickt im Umgang mit verängstigten Praktikanten und schrulligen Schwestern wie auch mit mißbilligenden Kollegen und Mitarbeitern in der Verwaltung, die ihr von Zeit zu Zeit den Rat geben, nicht so viele Risiken einzugehen.
    Rowan, die Wundertäterin – das ist ein gebräuchlicher Beiname geworden.
    Trotz ihres beruflichen Erfolges in der Chirurgie ist Rowan nach wie vor äußerst beliebt in der Klinik. Sie ist eine Ärztin, auf die sich die anderen verlassen können. Auch die Krankenschwestern, mit denen sie zusammenarbeitet, sind ihr in außergewöhnlicher Treue ergeben. Ja, ihre Beziehung zu diesen Frauen ist eigentlich so außergewöhnlich, daß sie nach einer Erklärung verlangt.
    Diese Erklärung scheint darin zu bestehen, daß Rowan sich alle erdenkliche Mühe gibt, persönlichen Kontakt mit Krankenschwestern zu finden, und daß sie für deren Probleme tatsächlich die gleiche außergewöhnliche Empathie aufbringt wie Jahre zuvor bei ihren Lehrern. Zwar berichtet keine dieser Schwestern von telepathischen Phänomenen, aber sie erklären wiederholt, daß Rowan es anscheinend immer weiß, wenn es ihnen schlecht geht, daß sie Mitgefühl für ihre familiären Schwierigkeiten hat und daß sie immer irgendeinen Weg findet, ihre Dankbarkeit für besondere Gefälligkeiten zum Ausdruck zu bringen – und dies alles, obwohl sie als kompromißlose Ärztin bei all ihren Mitarbeitern höchste Maßstäbe anlegt.
    Wie Rowan die Schwestern im OP erobert – darunter auch diejenigen, die dafür berühmt waren, daß sie sich Ärztinnen gegenüber eher unkooperativ zeigten -, ist so etwas wie eine Legende in der Klinik. Wo andere Chirurginnen als »streitsüchtig«, »eingebildet« oder »einfach biestig« kritisiert werden – Bemerkungen, die alles in allem beträchtliche Vorurteile vermuten lassen -, sprechen dieselben Krankenschwestern von Rowan wie von einer Heiligen.
    Rowan scheint diese Art von Vorurteilen restlos überwunden zu haben. Wenn es unter ihren Berufskollegen überhaupt Klagen gibt, dann deshalb, weil sie zu still ist. Sie sagt den jungen Ärzten, die von ihr lernen sollen, nicht genug über das, was sie tut. Es fällt ihr schwer. Aber sie tut, was sie kann.
    Im Jahre 1984 scheint es, als sei sie dem Fluch der Mayfairs und den gräßlichen Erlebnissen, die ihre Mutter und ihre Großmutter heimsuchten, endgültig entronnen und stehe am Anfang einer brillanten Karriere.
    Eine erschöpfende Untersuchung ihres Lebens ergab keinerlei Hinweis auf Lashers Anwesenheit oder auf sonstige Beziehungen zwischen Rowan und irgendwelchen Geistern, Gespenstern und Erscheinungen.
    Ihre starken telepathischen und heilenden Fähigkeiten wurden anscheinend in einer außerordentlich produktiven Weise in ihrer chirurgischen Laufbahn eingesetzt.
    Zwar bewundert ihre ganze Umgebung sie wegen ihrer außergewöhnlichen Leistungen, aber niemand empfindet sie als »sonderbar« oder »unheimlich« oder in

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