Hexenstunde
war, um wegen der schwülen Hitze zu duschen und sich umzuziehen, da hatte sie einen Augenblick lang solche Bitterkeit verspürt, daß sie keinen vernünftigen, rationalen Gedanken mehr hatte fassen, ja, nicht einmal hatte weinen können. Und natürlich wußte sie – so sicher, wie sie nur irgend etwas anderes wußte -, daß es unzählige unter ihnen gab, die nichts lieber getan hätten, als all dem zu entfliehen, diesem ungeheuren Netz von Blutsbanden und Erinnerungen. Aber es schien ihr trotz allem unmöglich.
Doch welche Wahrheiten über die Kindfrau im Sarg lagen hinter dieser Tür? Während sie plauderten, mit Stimmen, plätschernd wie Champagner, hatte sie lange Zeit gedacht: Kennt einer von euch vielleicht wunderbarerweise den Namen meines Vaters?
»Carlotta wird… nun, sie wird auch ein Wörtchen sagen wollen.«
»…so jung, als du zur Welt kamst…«
»Vater hat uns eigentlich nie erzählt…«
Aber jetzt brauchte sie nichts weiter zu tun, als dieses Eisentor aufzustoßen und die Marmorstufen hinaufzusteigen, über die morschen Dielen zu gehen und die Tür aufzudrücken, die man offengelassen hatte. Warum nicht? Sie sehnte sich jetzt so sehr nach dem Geschmack der Dunkelheit dort drinnen, daß sie nicht einmal mehr Michael vermißte. Das hier mußte sie alleine tun.
Plötzlich, als hätte sie es geträumt, sah sie, wie das Licht hinter der Tür heller wurde. Sie sah, wie die Tür sich weiter öffnete, und sie sah die Gestalt der alten Frau dahinter, schmal und dünn. Ihre Stimme tönte scharf und klar in der Dunkelheit, und sie hatte eine beinahe irisch anmutende Melodie, ernst und leise, wie sie klang:
»Kommst du jetzt herein oder nicht, Rowan Mayfair?«
Sie drückte gegen das Tor, aber es ließ sich nicht bewegen, und so zwängte sie sich so hindurch. Die Treppenstufen waren glatt; sie stieg langsam hinauf und spürte, daß die weichen Bodendielen der Holzveranda ganz sacht unter ihr federten.
Carlotta war verschwunden, aber als Rowan jetzt den Hausflur betrat, sah sie die schmale, matt beleuchtete Gestalt weit, weit hinten in der Tür zu einem großen Zimmer, wo die einsame Lampe brannte, die die ganze langgestreckte, düstere Diele mit der hohen Decke erhellte.
Sie ging vorbei an einer Treppe, die steil und unglaublich hoch in einen dunklen ersten Stock hinaufführte, den sie nicht sehen konnte, und weiter, vorbei an Türen zur Rechten, die offen standen und hinter denen ein riesiges Wohnzimmer lag. Die Straßenlaternen schienen durch die Fenster in dieses Zimmer herein und ließen sie milchig und mondweiß aussehen. Ihre Strahlen fielen in einem langen Streifen auf den schimmernden Fußboden und ein paar undefinierbare, verstreut stehende Möbelstücke.
Dann noch eine geschlossene Tür zur Linken, und schließlich trat sie endlich ins Licht und sah, daß sie in ein großes Eßzimmer gekommen war.
Zwei Kerzen standen auf dem ovalen Tisch. Ihre sanft tanzenden Flammen spendeten die einzige Beleuchtung hier drinnen. Wundersam erschien selbst dieses Licht, wie es dünn emporstieg und die Wandgemälde umschmeichelte, großflächige Landszenen mit moosbehangenen Eichen und gepflügten Feldern. Türen und Fenster ragten drei Meter hoch über Rowan hinaus; ja, als sie durch den langen Korridor zurückblickte, erschien ihr die Haustür riesenhaft, und ihr Rahmen beanspruchte ringsum die ganze Wand bis zur schattendunklen Decke.
Sie drehte sich um und schaute die Frau an, die am Ende des langen Tisches saß. Ihr dichtes, welliges Haar sah im Dunkeln sehr weiß aus; weicher als vorher umschloß es jetzt ihr Gesicht, und das Kerzenlicht spiegelte sich mit zwei klaren, erschreckenden Flammen in ihren Brillengläsern.
»Setze dich, Rowan Mayfair«, sagte sie. »Ich habe dir vieles zu sagen.«
Ein Geruch von Staub oder Schimmelsporen entstieg den Polstersitzen der geschnitzten Stühle. Oder kam er vielleicht vom Teppich oder aus den trüben Vorhangstoffen?
Egal. Der Geruch war überall. Aber da war noch einer, ein köstlicher Geruch, der sie an Holz und Sonnenschein denken ließ, und seltsamerweise auch an Michael. Es war ein guter Geruch. Michael, der Zimmermann, würde diesen Geruch verstehen. Es war der Geruch von Holz in dem alten Haus und von der Hitze, die sich im Laufe des Tages hier aufgestaut hatte. Und da hinein mischte sich schwach der Duft von Wachskerzen.
Der dunkle Kronleuchter über dem Tisch fing das Kerzenlicht ein und reflektierte es in hundert kristallenen Tränen.
»Er braucht
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