Hexenstunde
Rowan ist hier drin. Sie ist erschöpft. Reden kann sie morgen immer noch.«
Selbst für die alte Eugenia hatte Michael den Beschützer gespielt; er hatte ihr den Arm um die Schulter gelegt und sie hereinbegleitet, damit sie »die alte Miss Carl« noch einmal sehen könnte, ehe Lonigan die Tote aus dem Schaukelstuhl hob. Die arme Eugenia weinte geräuschlos. »Honey, möchten Sie, daß ich jemanden für Sie anrufe? Sie wollen doch heute nacht nicht allein im Haus bleiben, oder? Sagen Sie mir nur, was Sie möchten. Ich kann auch jemanden kommen lassen, der hier bei Ihnen bleibt.«
Mit Lonigan, seinem alten Freund, geriet er gleich wieder in den richtigen Takt. Der Hauch von Kalifornien verschwand spurlos aus seiner Stimme; er sprach nun genau wie Jerry und wie Rita, die »im Wagen« mit gekommen waren. Sie waren alte Freunde – Jerry, der vor fünfunddreißig Jahren mit Michaels Vater vor der Haustür auf der Treppe gesessen und Bier getrunken hatte, und Rita, die zu Elvis-Presley-Zeiten mit Michael »gegangen« war. Jetzt warf sie ihm die Arme um den Hals. »Michael Curry!«
Rowan war nach vorn geschlendert und hatte ihnen im Gleißen der Blitzlichter zugeschaut. Pierce telefonierte in der Bibliothek. Die Bibliothek hatte sie noch gar nicht gesehen. Jetzt durchflutete trübes elektrisches Licht das Zimmer und beleuchtete altes Leder und einen chinesischen Teppich.
»… na ja, Mike«, sagte Lonigan, »du mußt Dr. Mayfair sagen, daß diese Frau neunzig Jahre alt war. Das einzige, was sie noch in Gang hielt, war Deirdre. Ich meine, wir wußten, daß es nur eine Frage der Zeit sein würde, wenn Deirdre nicht mehr da wäre; deshalb darf sie sich keine Vorwürfe machen, was immer hier heute abend passiert sein mag. Ich meine, sie ist Ärztin, Mike, aber sie kann ja keine Wunder wirken.«
Nein, dachte Rowan, keine besonderen.
»Mike Curry? Sie sind doch nicht Tim Currys Sohn?« fragte ein uniformierter Polizist. »Man hat mir gesagt, Sie wären es. Na, verflucht, mein Dad und Ihr Dad waren Vettern dritten Grades; wußten Sie das? O ja, mein Dad kannte Ihren Dad sehr gut. Hat immer Bier mit ihm getrunken, im ›Corona’s‹.«
Endlich wurde die Leiche vom Dachboden, eingesackt und etikettiert, fortgeschafft, und der kleine, vertrocknete Leichnam der alten Frau war auf die weiße, gepolsterte Bahre gelegt worden, als wäre er lebendig, obgleich er jetzt nur in den Leichenwagen des Bestatters geschafft wurde – vielleicht, um nachher auf denselben Einbalsamierungstisch gelegt zu werden, auf dem Deirdre einen Tag vorher auch gelegen hatte.
Keine Totenfeier, keine Bestattungszeremonie, nichts, sagte Ryan. Das habe sie ihm am Tag zuvor selbst gesagt. Lonigan gegenüber habe sie es ebenfalls geäußert, sagte er. »In einer Woche wird es eine Gedenkmesse geben«, sagte Ryan. »Bist du dann noch hier?«
Wo sollte ich schon hin? Und warum? Ich weiß jetzt, wohin ich gehöre. In dieses Haus. Ich bin eine Hexe. Eine Mörderin. Und diesmal habe ich es absichtlich getan.
Als sie ins Eßzimmer zurückwanderte, hörte sie den jungen Pierce in der Bibliothekstür.
»Sie denkt doch nicht daran, heute nacht hier im Haus zu bleiben, oder?«
»Nein, wir gehen wieder ins Hotel«, sagte Michael.
»Es ist nur, daß sie nicht allein hier sein sollte. Das Haus kann sehr beunruhigend wirken. Würden Sie mich für verrückt halten, wenn ich Ihnen erzählte, daß eben, als ich in die Bibliothek kam, ein Porträt über dem Kamin hing und daß dort jetzt ein Spiegel ist?«
»Pierce!« sagte Ryan zornig.
»Entschuldige, Dad, aber…«
»Nicht jetzt, Junge – bitte.«
»Ich glaub’s Ihnen«, sagte Michael und lachte kurz. »Ich bleibe bei ihr.«
»Rowan?« Ryan näherte sich ihr behutsam – ihr, der Trauernden, dem Opfer, wo sie doch in Wahrheit die Mörderin war. Agatha Christie hätte es gewußt. Aber bei ihr hätte ich es mit einem Kerzenleuchter tun müssen.
»Ja, Ryan.«
Er setzte sich an den Tisch und achtete dabei sorgsam darauf, daß er mit dem Ärmel seines tadellos geschnittenen Anzugs nicht an die staubige Tischplatte kam. Sein Beerdigungsanzug. Das Licht fiel auf sein schön geschnittenes Gesicht und seine kalten blauen Augen. »Du weißt, daß dieses Haus dir gehört.«
»Das hat sie mir gesagt.«
»Nun, es hängt noch sehr viel mehr daran.«
»Belastungen, Hypotheken?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Ich glaube, solange du lebst, brauchst du dir über solche Dinge keine Sorgen mehr zu machen. Was ich sagen
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