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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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ganzen Welt.
    »Michael? Komm herein, Michael.«
    Er ging zu der ersten der beiden Wohnzimmertüren. Es war immer noch dunkel und voller Schatten, obwohl sie alle Vorhänge aufgezogen hatte. Das Licht fiel in Streifen durch die Blendläden, und matt und weich floß es durch die schmutzigen Fliegengitter der Veranda vor den Seitenfenstern.
    Rowan saß – klein und sehr hübsch – auf der langen braunen Samtcouch, mit dem Rücken zur Frontseite des Hauses. Das Haar fiel ihr wunderschön über die Wange. Sie trug eins dieser weiten, verknitterten Baumwolloberhemden, die leicht wie Seide sind, und ihr sonnengebräuntes Gesicht und ihr Hals hoben sich dunkel von dem weißen T-Shirt darunter ab. Ihre langen Beine steckten in einer weißen Hose, ihre Zehen waren nackt und überraschend sexy mit den schmalen, blitzroten Lackpunkten in den weißen Sandalen.
    »Die Hexe von Endor«, sagte er, und er beugte sich hinunter, um sie auf die Wange zu küssen und ihr Gesicht dabei mit der Linken warm und zärtlich zu umfassen.
    Sie ergriff seine beiden Handgelenke, hielt ihn fest und küßte ihn rauh und süß auf den Mund. Er spürte das Beben in ihren Gliedern, das Fieber in ihr.
    »Du bist ganz allein hier gewesen?«
    Sie lehnte sich zurück, als er neben ihr Platz nahm.
    »Und warum, zum Teufel, nicht?« fragte sie mit ihrer langsam fließenden, dunklen Stimme. »Ich habe heute nachmittag meine offizielle Kündigung an die Klinik übermittelt. Ich werde mich hier um eine Stelle bewerben. Und ich werde hier wohnen, in diesem Haus.«
    Er stieß einen langen Seufzer aus. »Ist das dein Ernst?«
    »Na, was meinst du?«
    »Ich weiß nicht. Auf dem ganzen Weg hierher – ich war im Irish Channel – habe ich immer wieder gedacht, vielleicht stehst du hier mit gepackten Koffern und willst zurückfliegen.«
    »Nein. Ausgeschlossen. Ich habe mit meinem alten Chef in San Francisco bereits drei oder vier verschiedene Kliniken hier erörtert. Er ruft ein paar Leute für mich an. Aber was ist mit dir?«
    »Wie meinst du das – was ist mit mir? Du weißt, warum ich hier bin. Wo soll ich noch hin? Sie haben mich hergebracht. Sie sagen mir nicht, ich soll noch anderswo hingehen. Ich habe vierhundert Seiten eurer Geschichte gelesen, und ich erinnere mich immer noch nicht. Es war Deborah, die ich gesehen habe; so viel ist sicher. Aber ich weiß im Grunde nicht, was sie gesagt hat.«
    »Du bist müde und erhitzt«, sagte sie und legte eine Hand auf seine Stirn. »Du redest irre.«
    Er lachte kurz und überrascht auf. »Hör dir das an«, sagte er. »Die Hexe von Endor. Hast du die Akte nicht gelesen? Wir sitzen in einem großen Spinnennetz, und wir wissen nicht, wer es geknüpft hat.« Er streckte die behandschuhten Hände aus und betrachtete die Finger. »Wir wissen es einfach nicht.«
    Sie sah ihn mit ruhiger, abwesender Miene an, was ihr Gesicht sehr kalt erscheinen ließ, obwohl ihre Wangen gerötet waren und das Licht sich in ihren Augen wunderschön spiegelte.
    »Na, du hast es doch gelesen, oder? Was hast du dabei gedacht? Was hast du gedacht?«
    »Michael, beruhige dich«, sagte sie. »Wir sitzen in keinem Netz, und niemand hat etwas geknüpft. Und soll ich dir einen Rat geben? Vergiß sie alle. Vergiß, was sie vielleicht von dir wollen, diese Leute, die du in deinen Visionen gesehen hast. Vergiß sie von jetzt an.«
    »Was soll das heißen – vergiß sie?«
    »Okay, hör zu. Ich habe stundenlang hier gesessen und nachgedacht, über alles. Ich habe folgenden Entschluß gefaßt. Ich werde hierbleiben, und ich werde hierbleiben, weil dieses Haus mir gehört und weil es mir gefällt. Und ich mag die Familie, der ich gestern begegnet bin. Ich mag sie. Ich möchte sie kennenlernen. Ich möchte ihre Stimmen hören, ihre Gesichter wiedererkennen, lernen, was sie mir beizubringen haben. Außerdem weiß ich, ich würde die alte Frau nicht vergessen können, und was ich ihr angetan habe – egal, wohin ich ginge.« Sie schwieg, und jäh aufblitzende Emotionen verwandelten ihr Gesicht für eine Sekunde, bevor sie verflogen; dann war ihre Miene wieder so kühl wie vorher. Sie verschränkte locker die Arme und legte einen Fuß auf die Kante des kleinen Couchtisches. »Hörst du mir zu?«
    »Ja, natürlich.«
    »Okay, ich möchte, daß du auch hier bleibst. Ich hoffe und bete, daß du hierbleiben wirst. Aber nicht wegen dieses Musters, wegen dieses Spinnennetzes, oder was immer es sein mag. Nicht wegen dieser Visionen oder wegen des Mannes. Denn es

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