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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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weit sehen können. Laß uns von der Vergangenheit reden. Menschen verstehen gern die Vergangenheit.«
    »Hat deine Stimme noch einen anderen Ton als diesen wunderschönen, sanften? Hättest du die letzten Worte auch sarkastisch sprechen können? Oder sollten sie so klingen?«
    »Ich kann klingen, wie es mir beliebt, Rowan. Du hörst, was ich fühle. Ich fühle in meinen Gedanken, in dem, was ich bin, Schmerz und Liebe. Emotionen.«
    »Du sprichst jetzt ein bißchen schneller.«
    »Ich leide.«
    »Warum?«
    »Ich will Fleisch haben.«
    »Und ich kann dir Fleisch geben?«
    »Du hast die Macht dazu. Und wenn dergleichen erst erreicht ist, sind vielleicht auch andere solche Dinge erreichbar. Du bist die dreizehnte, du bist die Tür.«
    »Was meinst du mit ›andere solche Dinge‹?«
    »Rowan, wir sprechen von Verschmelzung, von chemischer Veränderung – von einer strukturellen Neuerfindung von Zellen, Materie und Energie in einem neuen Verhältnis zueinander.«
    »Warum konnte das vor mir niemand tun? Julien war mächtig.«
    »Wissen, Rowan. Julien war zu früh geboren. Erlaube mir, das Wort Verschmelzung noch einmal zu benutzen, auf etwas andere Weise nur. Wir haben bis jetzt von der Verschmelzung innerhalb der Zellen gesprochen. Jetzt möchte ich von der Verschmelzung deiner Kenntnisse über das Leben und deiner angeborenen Macht sprechen. Das ist der Schlüssel, Rowan; das ist es, was dich befähigt, die Tür zu sein.
    Das Wissen deiner Ära war selbst für Julien unvorstellbar; er hat zu seinen Lebzeiten Erfindungen gesehen, die reine Zauberei zu sein schienen. Konnte Julien vorhersehen, wie ein Herz auf dem Operationstisch geöffnet wird? Wie ein Kind im Reagenzglas gezeugt wird? Nein. Und nach dir werden welche kommen, deren Wissen so groß ist, daß sie sogar definieren können, was ich bin.«
    »Kannst du mir definieren, was du bist?«
    »Nein. Aber ich bin ganz sicher definierbar, und wenn Sterbliche mich erst definiert haben, dann werde auch ich selbst mich definieren können.«
    »Ah, aber du mußt doch etwas über dich selbst wissen.«
    »Daß ich unermeßlich bin. Daß ich mich konzentrieren muß, um meine Kraft zu spüren. Daß ich Gewalt ausüben kann. Daß ich im denkenden Teil meiner selbst Schmerz fühlen kann.«
    »Ah ja – und was ist dieser denkende Teil? Und woher kommt die Gewalt, die du ausübst? Das sind die Fragen, auf die es ankommt.«
    »Aber das weiß ich nicht. Als Suzanne mich rief, kam ich zusammen. Ich zog mich klein zusammen, als wollte ich durch einen Tunnel fahren. Ich fühlte meine Form, breitete mich aus wie der fünfzackige Stern des Pentagramms, das sie zeichnete, und jede dieser Zacken veränderte ich noch. Ich ließ die Bäume beben und die Blätter fallen, und Suzanne nannte mich Lasher, ihren Peitscher.«
    »Und dir gefiel, was du tatst.«
    »Ja. Mir gefiel, daß Suzanne es sah. Und daß es Suzanne gefiel. Sonst hätte ich es nie wieder getan und mich auch nicht daran erinnert.«
    Das Feuer erstarb auf dem Rost, aber die Wärme hatte sich im ganzen Zimmer verbreitet; sie umhüllte sie wie eine Decke.
    »Laß uns zu Julien zurück kehren. Julien hatte ebensoviel Macht wie ich.«
    »Fast ebensoviel, meine Geliebte. Aber nicht ganz. Und in Julien wohnte eine verspielte und blasphemische Seele, die in der Welt hin und her tanzte und das Zerstören ebenso genoß wie das Aufbauen. Du bist konsequenter als er, Rowan.«
    »Das ist eine Tugend?«
    »Du hast einen unbezähmbaren Willen, Rowan.«
    »Ich verstehe. Nicht gebrochen von Humor, wie Juliens Wille gebrochen werden konnte.«
    »Gee-nau, Rowan!«
    Sie lachte wieder leise. Dann verstummte sie und starrte in die schimmernde Luft.
    »Gibt es einen Gott, Lasher?«
    »Ich weiß es nicht, Rowan. Mit der Zeit habe ich mir eine Meinung gebildet, und sie lautet: Ja. Aber es macht mich rasend vor Wut.«
    »Warum?«
    »Weil ich leide, und wenn es Gott gibt, hat er dieses Leid gemacht.«
    »Ja, das verstehe ich vollkommen, Lasher. Aber er hat auch die Liebe gemacht, wenn es ihn gibt.«
    »Die Liebe ist der Quell meines Leidens«, erwiderte er. »Sie ist der Grund, weshalb ich überhaupt in die Zeit gekommen bin, zu Ehrgeiz und zu Plänen. Man könnte sagen, daß ich durch Liebe vergiftet wurde, daß ich durch den Ruf Suzannes zur Liebe erweckt wurde, zum Alptraum des Wollens.«
    »Du machst mich traurig«, sagte sie plötzlich.
    »Jetzt strebe ich danach, zu Fleisch zu mutieren, und das wird der Vollzug meiner Liebe sein. Ich habe so

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