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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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getrieben.«
    »Nein. Ich habe die chemische Struktur der Zellen durchbohrt, genau wie du es kannst. Du bist die Tür. Du siehst in den Kern des Lebens.«
    Die Atmosphäre des Traums kehrte zurück. Alle drängten sich in den Fenstern der Universität zu Leiden. Was wollte der Mob auf der Straße? Sie hielten Jan van Abel für einen Ketzer.
    »Du weißt nicht, wovon du da sprichst«, sagte sie.
    »Ich weiß es. Ich sehe weit. Du hast mir die Metaphern und die Bezeichnungen gegeben. Durch deine Bücher habe auch ich die Begriffe in mich aufgenommen. Ich sehe bis zum Ende. Ich weiß es. Rowan kann Materie mutieren. Rowan kann Tausende und Abertausende der winzigen Zellen nehmen und sie neu ordnen.«
    »Und was ist das Ende? Werde ich tun, was du willst?«
    Wieder seufzte er.
    Etwas raschelte in den Ecken des Zimmers. Die Vorhänge wehten heftig. Der Kronleuchter sang wieder leise, und Glas klang an Glas. Stieg dort ein Dunstschleier zur Decke, der bis zu den blassen, pfirsichfarbenen Wänden reichte? Oder tanzte nur der Feuerschein in ihrem Augenwinkel?
    »Die Zukunft ist ein Stoff aus ineinander verwobenen Möglichkeiten«, sagte er. »Einige davon werden nach und nach zu Wahrscheinlichkeiten, und ein paar wenige werden unausweichlich. Aber es sind Überraschungen in Tuch und Kette geknüpft, die alles zerreißen können.«
    »Gott sei Dank dafür«, sagte sie. »Dann kannst du das Ende nicht sehen.«
    »Ich sehe es und ich sehe es doch nicht. Du bist nicht vorhersehbar. Du bist zu stark. Du kannst die Tür sein, wenn du es willst.«
    »Wie?«
    Schweigen.
    »Hast du Michael im Meer ertrinken lassen?«
    »Nein.«
    »Hat jemand anders es getan?«
    »Michael fiel von der Klippe ins Meer, weil er achtlos war. Seine Seele schmerzte, und sein Leben war nichts. All das stand ihm ins Gesicht geschrieben, und seine Gebärden verrieten es. Nicht nur ein Geist konnte das sehen.«
    »Aber du hast es gesehen.«
    »Ich habe es gesehen, lang bevor es geschah, aber ich habe es nicht verursacht. Ich habe gelächelt. Denn ich sah dich und Michael zueinander kommen. Ich sah es, als Michael klein war und mich sah und mich durch den Gartenzaun anschaute. Ich sah Michaels Tod und seine Rettung durch Rowan.«
    »Und was hat Michael gesehen, als er ertrunken war?«
    »Das weiß ich nicht, Michael war nicht lebendig.«
    »Wie meinst du das?«
    »Er war tot, Dr. Mayfair. Du weißt, was ›tot‹ bedeutet. Der Körper untersteht nicht länger einer einzigen ordnenden Macht, einem einzigen, verflochtenen Befehlssatz. Wäre ich in diesen Körper gefahren, ich hätte seine Arme heben und durch seine Ohren hören können, denn der Körper war frisch, aber er war tot. Michael hatte den Körper verlassen.«
    »Das weißt du?«
    »Ich sehe es. Ich habe es gesehen, bevor es geschah. Ich habe es gesehen, als es geschah.«
    »Wo warst du, als es geschah?«
    »Bei Deirdre, um Deirdre glücklich zu machen, um sie träumen zu lassen.«
    Wieder lachte sie leise. »Deine Stimme ist so schön, daß man sie umarmen möchte.«
    »Ich bin schön, Rowan. Meine Stimme ist meine Seele. Gewiß habe ich doch eine Seele. Die Welt wäre zu grausam, wenn ich keine hätte.«
    Sie war so traurig, als sie dies hörte, daß sie hätte weinen können. Sie starrte zum Kronleuchter hinauf, zu den hundert winzigen Flammen, die sich im Kristall dort spiegelten. Der Raum schien in Wärme zu schwimmen.
    »Liebe mich, Rowan«, sagte er schlicht. »Ich bin das mächtigste Wesen, das du dir in deinem Reich vorstellen kannst, und es gibt nur mich für dich, meine Geliebte.«
    Es war ein Lied ohne Melodie, es war eine Stimme aus Stille und Gesang, wenn so etwas vorstellbar ist.
    »Wenn ich Fleisch bin, werde ich mehr sein als nur menschlich. Ich werde etwas Neues unter der Sonne sein. Und weit größer für dich als Michael. Ich bin das grenzenlose Geheimnis. Michael hat dir gegeben, was er dir geben kann. Es wird kein großes Geheimnis mehr möglich sein bei deinem Michael.«
    »Du sagst, ich muß wählen zwischen dir und Michael?«
    Schweigen.
    »Hast du die andern gezwungen zu wählen?« Sie dachte vor allem an Mary Beth und an Mary Beths Männer.
    »Ich sehe weit, wie gesagt. Als Michael vor Jahren in deiner Zeit am Tor stand, da sah ich, daß du eine Wahl treffen würdest.«
    »Erzähle mir nichts mehr von dem, was du gesehen hast.«
    »Gut«, sagte er. »Gespräche über die Zukunft machen die Menschen immer unglücklich. Ihre Schwungkraft rührt aus der Tatsache, daß sie nicht

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