Hexenstunde
Stern zum ersten Mal hatte spielen hören. Hundertmal hatte er den Mann gesehen, wenn er durch die First Street spaziert war.
Aber diese Panik ertrug er nicht. Kaum war er im Geschäft und hatte die Tür hinter sich abgeschlossen, hatte er den Hörer in der Hand und rief Rowan an.
Sie meldete sich nicht. Es war Nachmittag in New Orleans, und es war kalt dort. Vielleicht hatte sie sich hingelegt. Fünfzehnmal ließ er es klingeln, ehe er auflegte.
Er sah sich um. Noch so viel zu tun. Die ganze Kollektion der Messingarmaturen mußte noch verkauft werden – und was war mit den verschiedenen Buntglasfenstern, die hinten an der Wand lehnten?
Schließlich beschloß er, den ganzen Papierkram aus dem Schreibtisch zu verpacken, wie er war, mitsamt allem, was weg geworfen werden konnte. Keine Zeit zum Sortieren. Er knöpfte seine Manschetten auf, krempelte die Ärmel hoch und begann die Aktenordner in Pappkartons zu stecken. Aber auch wenn er noch so schnell arbeitete – er wußte, er würde San Francisco frühestens in einer Woche verlassen können.
Es war acht Uhr, als er schließlich aufhörte. Die Straßen waren noch naß vom Regen, und Fußgänger drängten sich im unvermeidlichen Freitagabend-Verkehr.
Mit gesenktem Kopf stapfte er gegen den Wind bergauf zu seinem Auto. Einen Moment lang konnte er nicht glauben, was er sah: Beide Vorderräder an dem alten Wagen waren verschwunden, der Kofferraum war aufgebrochen – und das war sein eigener Wagenheber dort unter dem vorderen Kotflügel.
»Diese verfluchten Schweinehunde«, zischte er, als er aus dem Strom der Fußgänger vom Gehweg trat. »Das könnte nicht schlimmer sein, wenn es jemand geplant hätte.«
Geplant.
Jemand streifte seine Schulter. »Eh bien. Monsieur, schon wieder eine kleine Katastrophe.«
»Ja, wem sagen Sie das«, knurrte er, ohne aufzublicken. Den französischen Akzent bemerkte er kaum.
»Großes Pech, Monsieur, da haben Sie recht. Vielleicht hat es wirklich jemand geplant.«
»Ja, das dachte ich auch gerade«, sagte er mit leisem Schrecken.
»Fahren Sie nach Hause, Monsieur. Dort werden Sie gebraucht.«
»Hey!«
Er fuhr herum, aber die Gestalt war schon weitergegangen. Ein Schimmer von weißem Haar. Fast hatte die Menge ihn verschluckt. Michael sah nur noch einen Hinterkopf, der sich schnell entfernte, und etwas, das aussah wie ein dunkler Anzug.
Er rannte hinter dem Mann her.
»Hey!« schrie er noch einmal, aber als er an der Ecke Eighteenth und Castro ankam, war der Mann nirgends zu sehen. Ströme von Menschen überquerten die Kreuzung. Und der Regen hatte wieder eingesetzt. Ein Bus fuhr am Straßenrand an und rülpste eine Wolke von schwarzem Dieselqualm hervor.
Verzweifelt ließ Michael den Blick am Bus entlang wandern, bevor er sich umdrehte, um zurückzugehen, und im letzten Moment sah er durch das Rückfenster ein vertrautes Gesicht, das zu ihm herausschaute. Schwarze Augen, weißes Haar.
… mit den einfachsten und ältesten Werkzeugen, die dir zu Gebote stehen, denn damit kannst du gewinnen, auch wenn die Chancen sehr gering erscheinen…
»Julien!«
… deinen Sinnen nicht trauen können, aber du weißt, was die Wahrheit und was recht ist: Vertraue darauf, und vertraue auch darauf, daß du die Macht hast, die einfache menschliche Macht…
»Ja, das werde ich tun, ich habe alles verstanden…«
Mit einem jähen, heftigen Schwung wurde er von den Beinen gerissen; er fühlte einen Arm um seinen Leib, und eine Person mit großen Kräften zerrte ihn zurück. Ehe er etwas sagen oder sich wehren konnte, polterte der leuchtend rote Kotflügel eines Autos über den Randstein und krachte mit ohrenbetäubendem Knirschen gegen den Laternenpfahl. Jemand schrie. Die Windschutzscheibe des Autos schien zu explodieren, und silberne Glassplitter flogen in alle Richtungen.
»Verdammt!« Er fand sein Gleichgewicht nicht wieder und taumelte rücklings auf den Burschen, der ihn zurückgerissen hatte. Leute rannten auf das Auto zu. Jemand bewegte sich darin. Das Glas prasselte immer noch auf das Pflaster.
»Alles okay?«
»Ja, ja, mir fehlt nichts. Da hängt jemand drin!«
Das Blinklicht eines Polizeiwagens blendete ihn. Jemand rief dem Polizisten zu, er solle einen Krankenwagen rufen.
»Mann, die hätte Sie fast erwischt«, sagte der Bursche, der ihn weggerissen hatte, ein großer, kräftig gebauter Schwarzer in einem Ledermantel, und er schüttelte den graumelierten Kopf. »Haben Sie nicht gesehen? Der Wagen kam geradewegs auf Sie
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