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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Wahrheit ist, Pater.«
    »Ein Erbe ist es durchaus«, erwiderte Pater Lafferty erbost. »Es ist ein Erbe der Ignoranz und der Eifersucht und der Geisteskrankheit! Schon mal von solchen Dingen gehört, Dave Collins? Schon mal gehört von Haß zwischen Geschwistern, von Neid und skrupellosem Ehrgeiz?« Er stand auf und ging durch das Gewühl davon, ohne auf eine Antwort zu warten.
    In der Nacht, kurz vorm Einschlafen, erinnerte sich Pater Mattingly an die Bücher, die er im Seminar gelesen hatte. Der große Mann, der dunkle Mann, der stattliche Mann, der Inkubus, der in der Nacht kommt… der riesige Mann, der den Sabbat anführt! Sie sagt, daß er der Teufel ist, Pater. Daß es eine Sünde ist, ihn auch nur anzuschauen.
    Er erwachte irgendwann vor dem Morgengrauen und hörte Pater Laffertys wütende Stimme. Neid, Geisteskrankheit. War das die Wahrheit, die zwischen den Zeilen zu lesen war? Es war, als sei ein entscheidendes Stück in das Puzzle eingefügt worden. Fast konnte er das ganze Bild erkennen. Ein Haus, regiert von eiserner Hand, ein Haus, in dem schönen, stolzen Frauen Tragödien widerfahren waren. Und doch, irgend etwas störte ihn immer noch… Sie haben ihn alle gesehen, Pater. Verstreute Blumen auf der Erde, dicke, lange, weiße Gladiolen, zarte Farnwedel. Er sah, wie sein Schuh sie zertrat.
     
    Deirdre Mayfair gab ihr Kind auf. Es wurde am 7. November im neuen Mercy Hospital geboren, und noch am selben Tag küßte sie es und legte es Pater Lafferty in die Hände, und er taufte das Kind und gab es in die Obhut der Verwandten in Kalifornien, die es adoptieren würden. Aber es war Deirdre, die bestimmte, daß das Kind den Namen Mayfair tragen müsse. Ihre Tochter dürfe niemals einen anderen Nachnamen bekommen, oder Deirdre würde die Papiere nicht unterschreiben. Ihr alter Onkel Cortland Mayfair hatte in diesem Punkt hinter ihr gestanden, und nicht einmal Pater Lafferty hatte sie dazu bringen können, es sich anders zu überlegen. Sie bestand darauf, den Namen in Tinte geschrieben auf dem Taufschein zu sehen. Der arme alte Cortland Mayfair – ein vornehmer alter Gentleman – war zu diesem Zeitpunkt schon tot, bei einem furchtbaren Sturz auf der Treppe ums Leben gekommen.
    Pater Mattingly wußte nicht mehr, wann er es zum erstenmal gehört hatte, das Wort »unheilbar«. Sie war verrückt geworden, bevor sie das Krankenhaus verlassen hatte. Sie habe laut gesprochen, hieß es, obwohl niemand dagewesen sei: »Du hast es getan, du hast ihn getötet«, habe sie gesagt. Die Schwestern hätten Angst gehabt, ihr Zimmer zu betreten. Im Nachthemd sei sie in die Kapelle geirrt, habe mitten in der Messe gelacht und laut geredet, und irgend jemand Unsichtbaren bezichtigt, ihren Geliebten ermordet, sie von ihrem Kind getrennt und sie dann unter lauter »Feinden« allein gelassen zu haben. Als die Nonnen versuchten, sie festzuhalten, war sie wild geworden. Pfleger waren gekommen und hatten sie fortgeschleppt, und sie hatte um sich getreten und laut geschrien.
    Als Pater Lafferty im Frühjahr starb, hatte man sie weit weg in eine geschlossene Anstalt gebracht. Niemand wußte genau, wohin. Rita Lonigan fragte ihren Schwiegervater Red danach, denn sie wollte ihr so gern schreiben. Aber Miss Carl sagte, das wäre nicht gut. Keine Briefe für Deirdre.
    Nur Gebete. Und die Jahre gingen dahin.
    Pater Mattingly verließ die Gemeinde. Er arbeitete in Übersee. Er arbeitete in New York. Er fuhr so weit weg, daß New Orleans in seinen Gedanken nicht mehr vorkam, nur hin und wieder in plötzlichen Erinnerungen voller Scham: Deirdre Mayfair, der er nicht geholfen hatte. Seine verlorene Deirdre.
    Und dann, eines Nachmittags im Jahr 1976, als Pater Mattingly zu einem kurzen Aufenthalt im alten Pfarrhaus zurück gekommen war, da war er an dem alten Haus vorbeigegangen und hatte eine magere, bleiche junge Frau in einem Schaukelstuhl auf der Seitenveranda sitzen sehen, halb verborgen hinter einem rostigen Fliegengitter. Fast wie ein Geist hatte sie ausgesehen in ihrem weißen Nachthemd, aber er hatte sofort gewußt, daß es Deirdre war. Er hatte die schwarzen Locken erkannt, die ihr auf die Schultern hingen. Und als er das rostige Tor geöffnet hatte und den Plattenweg hinaufgegangen war, da hatte er gesehen, daß sogar der Gesichtsausdruck noch der gleiche war – jawohl, das war Deirdre, die er vor beinahe dreißig Jahren hierher nach Hause gebracht hatte.
    Ausdruckslos saß sie hinter dem Fliegengitter, das schlaff in dem leichten

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