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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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einer frischen, sauberen weißen Schicht bedeckt.
    Es wurde Zeit, etwas zu tun. Zeit, das Dinner in Angriff zu nehmen. Er wußte es, aber er konnte sich nicht rühren. Er rauchte noch eine Zigarette, und der Anblick des kleinen, brennenden roten Funkens war tröstlich. Als er die Zigarette ausgedrückt hatte, saß er einfach weiterhin regungslos da und tat gar nichts, wie er es früher in seinem Zimmer in der Liberty Street stundenlang getan hatte, und er versank in lautlose Panik und tauchte wieder hervor, und die ganze Zeit über konnte er nicht denken und sich nicht rühren.
    Er war nicht allein. Er wußte es, und als das Wissen in sein Bewußtsein drang, begriff er, daß er nur den Kopf zu drehen brauchte, um sie dort stehen zu sehen, in der hinteren Tür zur Geschirrkammer, mit verschränkten Armen. Nur Kopf und Schultern hoben sich von den hellen Schränken hinter ihr ab, und ihr Atem war ein kaum hörbares, sehr feines Geräusch.
    Ein so reines Grauen hatte er noch nie empfunden. Er stand auf und steckte die Zigarettenschachtel ein, und als er aufblickte, war sie weg.
    Er ging ihr nach, durchquerte rasch das dunkle Eßzimmer und trat hinaus in die Diele, und dann sah er sie ganz hinten im Lichtschein des Weihnachtsbaumes. Sie stand vor der hohen weißen Haustür.
    Er sah die Schlüssellochform rings um sie herum, wie sie sich überdeutlich von ihr abhob, und er sah, wie klein sie in diesem Rahmen aussah, und als er näher kam, sah er entsetzt, wie still sie dastand. Ihm graute vor dem, was er sehen würde, wenn er nah genug wäre, um in der luftigen Dunkelheit ihre Gesichtszüge zu erkennen.
    Aber es war nicht das grausige Marmorgesicht, das er in der vergangenen Nacht im Dunkeln gesehen hatte. Sie schaute ihn einfach an, und das weich getönte Licht vom Baum spiegelte sich matt in ihren Augen.
    »Ich wollte jetzt unser Abendessen machen. Ich habe alles eingekauft. Es ist dort hinten.« Wie unsicher er klang. Wie kläglich. Er versuchte sich zusammenzureißen; er holte tief Luft und hakte die Daumen in die Taschen seiner Jeans. »Ich kann sofort anfangen. Es ist nur ein kleiner Truthahn. Er ist in ein paar Stunden fertig, und ich habe alles Nötige mitgebracht. Es ist alles da. Wir decken den Tisch mit dem hübschen Porzellan. Das Porzellan haben wir noch nie benutzt. Wir haben noch nie an dem Tisch gegessen. Jetzt ist… jetzt ist Heiligabend.«
    »Du mußt gehen«, sagte sie.
    »Ich… ich verstehe nicht.«
    »Du mußt sofort von hier verschwinden.«
    »Rowan…?«
    »Du mußt gehen, Michael. Ich muß jetzt allein sein.«
    »Honey, ich verstehe nicht, was du mir damit sagen willst.«
    »Geh weg, Michael.« Ihre Stimme wurde leiser und härter. »Ich will, daß du gehst.«
    »Es ist Weihnachten, Rowan. Ich will nicht gehen.«
    »Dies ist mein Haus, Michael. Ich befehle dir, es zu verlassen. Ich befehle dir, zu verschwinden.«
    Er starrte sie einen Moment lang an, sah, wie ihr Gesicht sich veränderte, wie ihre angespannten Lippen sich verzogen, wie ihre Augen schmal wurden und wie sie den Kopf ein wenig senkte.
    »Hinaus, Michael«, zischte sie. »Verlasse dieses Haus, damit ich hier tun kann, was ich tun muß.«
    Und unvermittelt sauste ihre Hand herauf, und ehe er wußte, wie ihm geschah, brannte eine Ohrfeige in seinem Gesicht.
    Der Schmerz stachelte ihn an, sein Zorn schäumte auf, aber er war bitterer und schmerzlicher als aller Zorn, den er je verspürt hatte. Erschrocken und wütend starrte er sie an.
    »Das bist nicht du, Rowan!« sagte er. Er wollte nach ihr greifen; ihre Hand kam hoch, und als er ihren Schlag abwehrte, stieß sie ihn rückwärts gegen die Wand. Erbost und verwirrt schaute er sie an. Sie kam näher, und in ihren Augen brannte der Lichterglanz aus dem Salon. »Mach, daß du hier rauskommst«, wisperte sie. »Hast du mich verstanden?«
    Wie gelähmt merkte er, daß ihre Finger sich in seinen Arm bohrten. Sie stieß ihn nach links, auf die Haustür zu. Ihre Kraft war erschreckend, aber Körperkraft hatte nichts damit zu tun – es war die Bösartigkeit, die sie verströmte, die alte Maske des Hasses, die ihr Gesicht verdeckte.
    »Verlasse sofort dieses Haus. Ich befehle es dir.« Sie ließ ihn los, packte den Türknopf und riß die Tür auf, so daß der kalte Wind hereinpfiff.
    »Wie kannst du mir das antun?« fragte er. »Rowan, antworte mir. Wie kannst du so etwas tun?«
    Verzweifelt streckte er die Hände nach ihr aus, und diesmal konnte ihn nichts aufhalten. Er packte und

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