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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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schüttelte sie, und ihr Kopf fiel für einen Moment zur Seite. Dann fuhr sie herum und starrte ihn an. Ihr Blick warnte ihn, zwang ihn wortlos, sie loszulassen.
    »Was nutzt du mir tot, Michael?« flüsterte sie. »Wenn du mich liebst, gehst du jetzt. Komm zurück, wenn ich dich rufe. Das hier muß ich allein tun.«
    Sie kehrte ihm den Rücken zu und ging die Diele hinunter. Er lief ihr nach.
    »Rowan, ich gehe nicht, hörst du? Mir ist egal, was passiert, aber ich verlasse dich nicht. Das kannst du nicht von mir verlangen.«
    »Das habe ich gewußt«, sagte sie leise, als er ihr in die dunkle Bibliothek folgte. Die schweren Samtvorhänge waren geschlossen, und er konnte sie kaum sehen, als sie an den Schreibtisch trat.
    »Rowan, wir können nicht länger darüber schweigen. Es zerstört uns. Rowan, hör mir zu.«
    »Michael, mein schöner Engel, mein Erzengel«, sagte sie. Sie hatte ihm immer noch den Rücken zugewandt, und ihre Worte klangen gedämpft. »Du würdest lieber sterben, nicht wahr, als mir zu vertrauen?«
    »Rowan, ich kämpfe mit bloßen Händen gegen ihn, wenn ich muß.« Er ging auf sie zu. Wo waren nur die Lampen in diesem Zimmer. Mit ausgestreckten Händen tastete er nach der Messingstehlampe neben dem Sessel, und da wirbelte sie herum und stürzte sich auf ihn.
    In ihrer erhobenen Hand sah er die Injektionsspritze.
    »Nein, Rowan!«
    Im selben Augenblick stach die Nadel in seinen Arm.
    »O Gott, was tust du mir an!« Aber er kippte schon zur Seite, als habe er keine Beine mehr, und dann fiel die Lampe um, und er lag daneben und starrte in die fahlen, scharfen Scherben der zerbrochenen Birne.
    »Schlaf nur, mein Liebling«, sagte sie. »Ich liebe dich. Ich liebe dich mit meiner ganzen Seele.«
    Aus weiter Ferne hörte er die Wähltasten des Telephons. Ihre Stimme klang so leise, und ihre Worte… was sagte sie da? Sie sprach mit Aaron. Ja, mit Aaron…
    Und als sie ihn aufhoben, sagte er Aarons Namen.
    »Du gehst zu Aaron, Michael«, flüsterte sie. »Er wird sich um dich kümmern.«
    Nicht ohne dich, Rowan, wollte er antworten, aber schon wieder schwanden ihm die Sinne, und das Auto setzte sich in Bewegung, und er hörte eine Männerstimme: »Das wird schon wieder, Mr. Curry. Wir bringen Sie zu Ihrem Freund. Bleiben Sie nur ganz ruhig da hinten liegen. Dr. Mayfair sagt, bald geht’s Ihnen wieder gut.«
    Gut, gut, gut…
    Ihr gedungenen Knechte. Ihr versteht ja nicht. Sie ist eine Hexe, und sie hat mich verzaubert mit ihrem Gift, wie Charlotte es mit Petyr gemacht hat, und was sie euch erzählt hat, ist eine verfluchte Lüge.

 
    51
     
     
    Nur der Baum war erleuchtet. Das ganze Haus schlummerte in warmer Dunkelheit, von diesem milden Lichtkreis abgesehen. Die Kälte klopfte an die Fensterscheiben, aber sie konnte nicht herein.
    Rowan saß auf dem Sofa, die Beine gekreuzt, die Arme verschränkt, und blickte starr durch das Zimmer in den hohen Spiegel; den Glanz des Kronleuchters konnte sie gerade noch erkennen.
    Die Zeiger der Standuhr wanderten langsam gegen Mitternacht.
    Und das ist nun die Nacht, die dir so viel bedeutet hat, Michael. Die Nacht, die du so gern mit mir zusammen verbringen wolltest. Aber du könntest nicht weiter entfernt sein, wenn du auf der anderen Seite der Welt wärest. Alle diese einfachen, freundlichen Dinge sind weit weg von mir; es ist wie an jenem Weihnachtsabend, als Lemle mich in seinem dunklen, geheimen Labor von Tür zu Tür führte. Was hat solches Grauen mit dir zu tun, mein Liebling?
    Ihr ganzes Leben lang, ob es nun lang oder kurz oder fast vorüber sein mochte – ihr ganzes Leben lang würde sie Michaels Gesicht nicht mehr vergessen, als sie ihn geschlagen hatte; sie würde den Klang seiner Stimme in Erinnerung behalten, wie er sie angefleht hatte; sie würde seinen erschrockenen Ausdruck vor sich sehen, als sie ihm die Nadel in den Arm gestoßen hatte.
    Warum also empfand sie nichts? Warum war nur diese Leere in ihr, diese immer weiter schrumpfende Stille? Sie war barfuß, und das weiche Flanellnachthemd hing lose an ihr herunter. Der chinesische Seidenteppich unter ihren Füßen fühlte sich warm an. Dennoch kam sie sich nackt und isoliert vor, als könne nichts Warmes, Tröstendes sie je berühren.
    Etwas regte sich in der Mitte des Zimmers. Die Zweige des Baumes erbebten, und die kleinen Silberglöckchen machten eine leise, kaum hörbare Musik in der Stille. Kleine Engel mit vergoldeten Flügeln tanzten an langen Goldfäden.
    Dunkelheit sammelte und

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