Hexenstunde
erfüllte ihre Ohren. Es war ein Baby, das weinte. Es war das gleiche furchtbare Geräusch, das sie in ihren Träumen wieder und wieder gehört hatte. Das quäkende Schreien eines Babys. Sie wollte sich die Hände auf die Ohren pressen, weil sie es nicht mehr ertragen konnte, sie heulte, damit es aufhörte, und die Hitze erstickte sie.
»Laß mich sterben«, ächzte sie. »Laß mich verbrennen. Nimm mich mit in die Hölle. Laß mich sterben.«
Rowan, hilf mir. Ich bin im Fleisch. Hilf mir, oder ich werde sterben. Rowan, du darfst dich nicht von mir abwenden.
Fester drückte sie die Hände auf die Ohren, aber die dünne Stimme, die mit dem Schluchzen des Babys an- und wieder abschwoll, ließ sich nicht aussperren. Ihre Hand glitschte im Blut aus, und sie fiel mit dem Gesicht hinein; klebrig und naß bedeckte es den Boden unter ihr, und sie wälzte sich auf den Rücken und sah wieder die schimmernde Hitze. Das Baby schrie lauter und lauter, als habe es Hunger oder große Schmerzen.
Rowan, hilf mir! Ich bin dein Kind! Michaels Kind. Rowan, ich brauche dich.
Sie wußte, was sie sehen würde, noch bevor sie hinschaute. Durch Tränen und durch Wogen von Hitze sah sie es, das Männchen, das Monstrum. Nicht aus meinem Leibe, nicht von mir geboren. Ich habe niemals…
Es lag auf dem Rücken, und sein mannsgroßer Kopf drehte sich beim Schreien hin und her. Die dünnen Ärmchen wuchsen zusehends, winzige Finger spreizten sich und tasteten und wuchsen, Füßchen strampelten, wie Babyfüße strampeln, traten in die Luft. Die Waden streckten sich, und Blut und Schleim fielen von ihnen ab, glitten an runden Bäckchen und glänzend schwarzem Haar herunter.
Rowan, ich bin lebendig, laß mich nicht sterben. Laß mich nicht sterben, Rowan. Du hast die Macht, Leben zu retten, und ich lebe doch. Hilf mir.
Sie kroch darauf zu. Scharfer Schmerz durchzuckte ihren Körper noch immer, und sie streckte die Hand nach diesem kleinen, glitschigen Bein aus, nach diesem Füßchen, das in der Luft strampelte, und als ihre Finger sich um das weiche, glatte Babyfleisch schlossen, senkte sich Dunkelheit auf sie herab, und durch die geschlossenen Augenlider sah sie die Anatomie, den Weg der Zellen, sah die sich entwickelnden Organe, winzig wie Knospen, sah das uralte Wunder der Zellen, die sich zusammenfügten. Sie sah die mikroskopischen Ketten der Chromosomen, wie sie sich umeinander schlängelten, als Zellkerne verschmolzen – und das alles war von ihr gelenkt, all das Wissen war in ihr, wie das Wissen der Symphonie im Komponisten ist, Note um Note, Takt um Takt, Crescendo auf Crescendo.
Das Fleisch pochte unter ihren Fingern, lebte, atmete durch die Poren der Haut. Die Schreie wurden rauher, tiefer, hallender, als sie das Bewußtsein verlor und gleich wieder zu sich kam. Ihre andere Hand tastete in der Dunkelheit umher, fand seine Stirn, fand einen dichten Schöpf von männlichen Locken, fand seine Augen, flatternd an ihrer Handfläche, fand den halbgeschlossenen Mund, aus dem das Schluchzen kam, fand die Brust und das Herz darunter, die langen, muskulösen Arme, die auf die Dielen trommelten. Ja, das Ding war jetzt so groß, daß sie den Kopf auf seine pumpende Brust legen konnte, und auf den Penis zwischen seinen Beinen, ja, und auf die Schenkel. Wieder kroch sie hoch und legte sich auf ihn, legte beide Hände auf ihn und fühlte, wie sein Atem den Brustkorb hob und senkte, wie die Lunge wuchs und sich füllte, wie das Herz pumpte und wie seidiges Haar rings um seinen Schwanz sproß… und dann, dann sank sie hinab in die Schwärze, in die Stille.
Eine Stimme sprach mit ihr, intim und sanft.
»Stoppe die Blutung.«
Sie konnte nicht antworten.
»Du blutest. Stoppe die Blutung.«
»Ich will nicht leben«, sagte sie. Bestimmt brannte das Haus. Komm, alte Frau, komm mit deiner Lampe. Zünde die Vorhänge an.
»Sterbe ich?«
»Nein.« Er lachte. Ein so sanftes, seidenweiches Lachen. »Kannst du mich hören? Ich lache, Rowan. Ich kann jetzt lachen.«
Bring mich in die Hölle. Laß mich sterben.
»Nein, mein Liebling, mein kostbarer, schöner Liebling. Du mußt die Blutung stoppen.«
Der Sonnenschein weckte sie. Sie lag im Wohnzimmer auf dem Boden, auf dem weichen chinesischen Teppich, und ihr erster Gedanke war, daß das Haus nicht abgebrannt war. Die schreckliche Hitze hatte es nicht verzehrt. Irgend wie war es verschont geblieben.
Einen Moment lang begriff sie nicht, was sie sah.
Ein Mann saß neben ihr und schaute auf sie
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