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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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erotisch, dieser machtvolle Sog, als sie das Boot nun westwärts richtete und den Kopf in den Nacken legte, um wie immer die hoch aufragenden Pfeiler der Golden Gate Bridge zu betrachten. Das große, schwere Segelboot zog langsam, aber stetig seine Bahn und drängte den verschwommenen Horizont immer weiter zurück.
    So indifferent, der große, stumpfe, rollende Pazifik. Unmöglich, an irgend etwas außer sich selbst zu glauben, wenn man diese wie ein endloses Mosaik sich dehnende Fläche betrachtete, die da wogend und schillernd im farblosen Sonnenuntergang lag, wo das Meer in einem gleißenden Dunst den Himmel berührte.
    Und er glaubte also, daß er zu einem bestimmten Zweck zurückgeschickt worden war, dieser Mann, der wunderschöne Häuser restaurierte, dessen Zeichnungen als Bücher veröffentlicht wurden, ein Mann, der viel zu kultiviert sein müßte, um an solche Dinge zu glauben.
    Aber er war ja wirklich tot gewesen, oder? Er hatte dieses Erlebnis gehabt, über das so viele geschrieben hatten: schwerelos aufwärts zu schweben und erhaben losgelöst auf die Welt dort unten zu schauen.
    Nichts dergleichen war ihr jemals passiert. Aber es gab andere Erlebnisse, genauso merkwürdige. Und während die ganze Welt über Currys Abenteuer Bescheid wußte, ahnte niemand etwas von den seltsamen Geheimnissen, die Rowan kannte.
    Aber die Vorstellung, daß diesen Dingen ein Sinn, ein Plan zugrunde liegen sollte, nun, die ging über ihr Fassungsvermögen hinaus. Sie fürchtete – wie sie es immer gefürchtet hatte -, daß der einzige Sinn in der Einsamkeit bestand, in harter Arbeit, in dem Bemühen, dem Tod Leben abzuringen, wo es unmöglich erschien. Die Chirurgie hatte sie verlockt, weil sie die Leute wieder auf die Beine bringen konnte; sie lebten und sagten »Danke!«, und man selbst hatte Leben gerettet und dem Tod ein Schnippchen geschlagen. Das war der einzige unbestreitbare Wert, für den sie alles geben konnte. Doktor, wir hätten nie gedacht, daß sie noch einmal auf die Beine kommt.
    Aber der große Sinn des Lebens, der Zweck einer Wiedergeburt? Was konnte das sein? Was war der Sinn für eine Frau, die im Kreißsaal am Schlaganfall starb, während ihr Neugeborenes in den Armen der Ärztin weinte? Was war der Sinn für den Mann, der auf dem Heimweg von der Kirche von einem betrunkenen Autofahrer getötet wurde?
    Für den Fötus, den sie einmal gesehen hatte, hatte es einen Sinn gegeben – ein lebendiges, atmendes Ding, die Augen noch geschlossen; der kleine Mund glich dem Maul eines Fisches, und Drähte verliefen in alle Himmelsrichtungen von dem greulichen, übergroßen Kopf und den winzigen Ärmchen, während es in einem speziellen Inkubator schlummerte und darauf wartete, daß ihm – natürlich während es weiter lebte und atmete – das Gewebe entnommen würde, das für den zwei Etagen weiter oben wartenden Transplantationspatienten benötigt wurde.
    Aber wenn das ein Sinn war, daß man diese kleinen abgetriebenen Wesen allen gegenteiligen Gesetzen zum Trotz in einem verborgenen Labor im Herzen einer gigantischen Privatklinik am Leben erhalten und nach Belieben zerschneiden konnte – zum Nutzen eines Parkinson-Patienten, der schon sechzig gute Jahre hinter sich gebracht hatte, ehe er begonnen hatte, an der Krankheit zu sterben, die durch die Transplantation des Fötengewebes geheilt werden könnte – na, da legte sie das Messer aber lieber jeden Tag an eine Schußverletzung, die frisch aus der Notaufnahme heraufkam.
    Nie würde sie diesen kalten, dunklen Weihnachtsabend vergessen, und Dr. Lemle, der sie durch die menschenleeren Korridore des Keplinger-Instituts geführt hatte. »Wir brauchen Sie hier, Rowan. Ich könnte es einfädeln, daß Sie die Universitätsklinik verlassen. Was ich Larkin sagen muß, weiß ich. Ich will Sie hier haben. Und jetzt werde ich Ihnen etwas zeigen, was Sie zu schätzen wissen werden und was Larkin niemals zu schätzen wissen würde. Etwas, das Sie in der Universität niemals sehen werden. Etwas, das Sie verstehen werden.«
    Aber sie hatte es nicht verstanden. Oder besser gesagt, sie hatte das Grauenvolle daran zu gut verstanden.
    »Es ist nicht lebensfähig im strengen Sinne des Wortes«, hatte er erklärt, dieser Arzt, der sie angezogen hatte, weil er so brillant war, brillant und ehrgeizig – und visionär, ja, auch das. »Und technisch ist es natürlich nicht mal lebendig. Es ist tot, mausetot, verstehen Sie, denn die Mutter hat es abgetrieben, unten in der Klinik; also

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