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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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ist es technisch gesehen eine Unperson, ein nicht-menschliches Wesen. Wer will uns da sagen, Rowan, daß wir es in einen Müllsack aus Plastik stopfen müssen, wenn wir wissen, daß wir, wenn wir diesen winzigen Körper und andere wie ihn lebendig erhalten – diese winzigen Goldminen von einzigartigem Gewebe, so flexibel, so anpassungsfähig, so ganz anders als alles andere menschliche Gewebe, wimmelnd noch dazu von zahllosen winzigen Zellen, die im Laufe der normalen fötalen Entwicklung abgestoßen werden würden -, daß wir damit auf dem Gebiet der neurologischen Transplantation Entdeckungen machen können, nach denen sich Mary Shelleys Frankenstein wie eine Gute-Nacht-Geschichte lesen wird.«
    Ja, das traf die Sache im Kern, haargenau. Und es gab wenig Zweifel, daß er die Wahrheit sagte, als er eine Zukunft kompletter Hirntransplantationen vorhersagte, bei denen das Denkorgan ohne größere Probleme aus einem abgenutzten Körper herausgenommen und in einen jungen, frischen eingesetzt werden würde, eine Welt, in der vielleicht überhaupt neue Gehirne geschaffen werden würden, bei denen hier und da Gewebe hinzugefügt würde, um das Werk der Natur zu ergänzen.
    »Sehen Sie, das Bedeutsame am Fötengewebe ist, daß der Empfänger es nicht abstößt. Das wissen Sie natürlich, aber haben Sie auch schon darüber nachgedacht, haben Sie sich überlegt, was das eigentlich bedeutet? Ein winziges Implantat aus Fötalzellen im Auge eines erwachsenen Menschen, und das Auge nimmt diese Zellen an, und die Zellen entwickeln sich weiter, passen sich dem neuen Gewebe an. Mein Gott, sehen Sie nicht, daß es uns damit möglich wird, am Evolutionsprozeß teilzunehmen? Ja, wir sind doch erst am Rande…«
    »Nicht wir, Karl. Sie.«
    »Rowan, Sie sind die brillanteste Chirurgin, mit der ich je zusammengearbeitet habe. Wenn Sie…«
    »Ich werde es nicht tun! Ich werde nicht töten.« Und wenn ich hier nicht bald rauskomme, werde ich anfangen zu schreien. Ich muß. Denn ich habe getötet.
    Sie hatte Lemle natürlich nicht verpfiffen. Ärzte tun so etwas untereinander nicht, erst recht nicht, wenn sie kleine Klinikärzte und ihre Gegner mächtige und berühmte Forscher sind. Sie hatte einfach gekniffen.
    »Und außerdem«, hatte er später beim Kaffee vor dem Kamin in Tiburon gesagt, während sich die Weihnachtslichter in den Glaswänden ringsrum gespiegelt hatten, »außerdem ist das überall im Gange, diese Forschung am lebenden Fötus. Es gäbe ja kein Gesetz dagegen, wenn es nicht so wäre.«
    Eigentlich keine Überraschung. Es war allzu verlockend. Ja, die Verlockung war eigentlich genauso stark wie ihr Ekel. Welcher Wissenschaftler – und ein Neurologe war nun ganz bestimmt ein Wissenschaftler – hätte solche Träume nicht gehabt?
    Was für ein gräßliches Weihnachtsgeschenk, diese Offenbarung, und doch hatte sich ihre Hingabe an die Arbeit in der Chirurgie verdoppelt. Beim Anblick dieses winzigen Monstrums, das da im künstlichen Licht nach Luft geschnappt hatte, war sie selbst wiedergeboren worden; ihr Leben hatte sich gewissermaßen zugespitzt und unschätzbare Macht gewonnen, als sie zur Wundertäterin der Universität geworden war – diejenige, die man rief, wenn das Gehirn aus dem Schädel auf die Bahre quoll.
    Vielleicht war das verletzte Gehirn für sie der Mikrokosmos alles Tragischen: Leben, das unablässig und willkürlich vom Leber verletzt wurde. Wenn Rowan getötet hatte – und sie hatte getötet -, war dieser Akt genauso traumatisch gewesen: Niemand hatte irgend etwas für die tun können, die sie getötet hatte.
    Aber nicht, um über Sinn und Zweck zu diskutieren, wollte sie Michael Curry sehen. Auch nicht, um ihn in ihr Bett zu zerren. Sie wollte von ihm das gleiche wie alle anderen, und eben deshalb war sie nicht zu ihm ins San Francisco General Hospital gefahren, um sich selbst von seiner Genesung zu überzeugen.
    Sie wollte mehr über diese Tötungen erfahren, und nicht das, was die Autopsie ihr sagen konnte. Sie wollte wissen, was er sah und fühlte – falls und wenn sie seine Hand hielte -, während sie an diese Todesfälle dachte. Er hatte etwas gespürt, als er sie das erstemal berührt hatte. Aber vielleicht war auch das aus seiner Erinnerung gelöscht, genau wie das, was er gesehen hatte, als er tot gewesen war. Was würde es für Curry bedeuten, wenn sie sagte, ich bin Ärztin und ich glaube Ihnen Ihre Visionen, weil ich selbst weiß, daß es solche Dinge gibt, übersinnliche Dinge, die kein

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