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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Mensch erklären kann. Ich selbst besitze so eine verwirrende und manchmal ganz und gar unbeherrschbare Macht – die Macht, mit meinem Willen zu töten.
    Wieso sollte ihn das kümmern? Er war umgeben von Leuten, die ihm glaubten, daß er tun konnte, was er tat, nicht wahr? Aber das half ihm nichts. Er war gestorben und ins Leben zurück gekehrt, und jetzt wurde er verrückt. Aber dennoch – wenn sie ihm ihre Geschichte erzählte… und diese Vorstellung war jetzt entschieden zur fixen Idee geworden… dann wäre er vielleicht der einzige Mensch auf der ganzen Welt, der ihr glaubte, was sie sagte. Früher oder später würde sie mit jemandem darüber sprechen müssen; das wußte sie. Früher oder später würde das Schweigen ihrer dreißig Jahre, wenn sie nicht anfinge zu sprechen, zerbersten in einem nicht mehr endenwollenden Schrei, in dem alle Worte ertranken.
    Schließlich, diese drei Morde konnte sie nicht vergessen. Grahams Gesicht, als das Leben aus ihm hinaussickerte. Das kleine Mädchen, zuckend auf dem Asphalt. Der Mann, zusammengesackt über dem Steuer seines Jeeps.
    Sobald sie ihre Assistentenstelle angetreten hatte, hatte sie sich durch offizielle Kanäle diese drei Autopsieberichte beschafft. Zerebrovaskulares Unfalltrauma, subarachnoide Hämorrhagie, angeborenes Aneurisma. Sie hatte sie in allen Einzelheiten gelesen.
    Was das in der Laiensprache bedeutete, war eine verborgene Schwachstelle in einer Arterienwand, die ohne erkennbaren Grund schließlich gerissen war, was ganz unerwartet und plötzlich zum Tod geführt hatte. Man hätte – mit anderen Worten – unmöglich voraussagen können, daß ein sechsjähriges Mädchen auf dem Spielplatz plötzlich Anfälle bekommen würde, ein sechsjähriges Mädchen, das gesund genug gewesen war, um Augenblicke zuvor die sechsjährige Rowan zu treten und an den Haaren zu ziehen. Und niemand hätte irgend etwas für das Kind tun können, als ihm das Blut aus Nase und Augen quoll und die Augäpfel sich in den Kopf hineindrehten. Im Gegenteil, man hatte die anderen Kinder noch beschützt, ihre Augen vor diesem Anblick abgeschirmt und sie gleich ins Klassenzimmer gescheucht.
    »Arme Rowan«, sagte die Lehrerin später. »Darling, du mußt begreifen, daß sie etwas im Kopf hatte, was sie getötet hat. Es war etwas Medizinisches. Es hatte nichts mit eurem Zank zu tun.«
    Und da hatte Rowan mit absoluter Sicherheit gewußt, was die Lehrerin niemals wissen würde. Sie hatte es getan. Sie hatte den Tod dieses Kindes hervorgerufen.
    Nun, das konnte man noch einigermaßen mühelos abtun – das natürliche Schuldgefühl eines Kindes wegen eines unverstandenen Unglücksfalles. Aber Rowan hatte etwas gefühlt, als es geschehen war. Sie hatte etwas in sich gespürt – ein mächtiges Gefühl hatte sie durchdrungen, das einige Ähnlichkeit mit Sex hatte, wenn sie es sich überlegte; es war durch sie hindurch und scheinbar aus ihr hinaus geflutet, als das Mädchen rückwärts hingefallen war. Und dann war da dieser diagnostische sechste Sinn von ihr gewesen, der sich schon damals bemerkbar gemacht hatte: Er hatte ihr gesagt, daß das Kind sterben würde.
    Gleichwohl hatte sie das Ereignis vergessen. Graham und Ellie waren nach Art guter kalifornischer Eltern mit ihr zu einem Psychiater gegangen. Sie hatte mit seinen kleinen Mädchenpuppen gespielt. Sie hatte gesagt, was er von ihr hatte hören wollen. Und am »Schlag« starben dauernd Leute.
    Acht Jahre vergingen, bevor der Mann auf der einsamen Straße in den Bergen von Tiburon ihr in seinem Jeep die Hand auf den Mund drückte und mit dieser schrecklich vertraulichen und unverschämten Stimme sagte: »Jetzt nicht schreien.«
    Ihre Adoptiveltern sahen nie einen Zusammenhang zwischen dem kleinen Mädchen und dem Vergewaltiger, der gestorben war, als Rowan sich gesträubt hatte, als der gleiche lodernde Zorn sie elektrisiert hatte und sie in diesen köstlichen Zustand hinübergeglitten war, in dem ihr Körper jäh erstarrte, während der Mann sie losließ und über dem Lenkrad zusammensackte.
    Aber sie hatte den Zusammenhang gesehen. Nicht damals, als sie die Tür des Jeeps aufgestoßen hatte und schreiend die Straße hinuntergerannt war. Nein, damals hatte sie nicht einmal gewußt, daß sie bereits in Sicherheit war. Aber später, als sie zu Hause allein im Dunkeln gelegen hatte und die Highway-Polizei und die Kriminalpolizisten gegangen waren, da hatte sie es gewußt.
    Fast anderthalb Jahre waren vergangen, bevor das mit

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