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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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weil sie bis zu einem gewissen Grad völlig berechenbar waren. Vielleicht lag es auch einfach daran, daß deren spezielle Sorte von Unehrlichkeit sie nicht so sehr störte; sie erschien ihr harmlos im Vergleich mit der komplexen, heimtückischen und endlos bösartigen Unsicherheit der gebildeteren Männer.
    Natürlich hatte die diagnostische Nützlichkeit dieses speziellen sechsten Sinnes das alles restlos aufgewogen.
    Aber was könnte jemals die Fähigkeit, durch ihren Willen zu töten, aufwiegen? Buße war eine andere Sache. Zu welchem guten Zweck war eine telekinetische Fähigkeit wie diese zu verwenden?
    Und eine solche Fähigkeit lag nicht außerhalb des wissenschaftlich Möglichen; das war das eigentlich Erschreckende. Wie die psychometrische Fähigkeit Michael Currys konnten solche Dinge mit meßbarer Energie zu tun haben: komplexe physikalische Talente, die eines Tages vielleicht ebenso definierbar sein würden wie Elektrizität oder Mikrowellen.
    Aber der Parapsychologie gehörte Rowans Liebe nicht. Sie war fasziniert von dem, was man in Reagenzgläsern, auf Objektträgern, in Graphiken sehen konnte. Ihr lag nichts daran, ihre eigene tödliche Kraft zu testen und zu analysieren. Sie wollte nur gern glauben, daß sie sie niemals benutzt hatte, daß es vielleicht eine andere Erklärung für das Geschehene gab, daß sie vielleicht irgend wie doch unschuldig war.
    Und das Tragische war, daß ihr vielleicht niemand je würde erklären können, was wirklich mit Graham passiert war, mit dem Mann im Jeep, mit dem Kind auf dem Spielplatz. Und alles, was sie zu erhoffen hatte, war die Möglichkeit, es jemandem zu erzählen, sich von der Last zu befreien und die Schuld – wie jeder Mensch – durch Reden auszutreiben.
    Nur ein einziges Mal hatte dieses Verlangen, sich jemandem anzuvertrauen, sie beinahe überwältigt. Und das war ein ganz ungewöhnliches Ereignis gewesen. Beinahe hätte sie einem wildfremden Menschen die ganze Geschichte erzählt, und seitdem kam es manchmal vor, daß sie sich wünschte, sie hätte es auch getan.
    Es war gegen Ende des vergangenen Jahres gewesen, sechs Monate nach Ellies Tod. Rowan empfand eine so schmerzliche Einsamkeit wie nie zuvor. Es war, als sei der familiäre Boden, auf dem sie stand, über Nacht fortgeschwemmt worden. Sie hatten ein so gutes Leben gehabt, ehe Ellie krank geworden war. Selbst Grahams Affären hatten daran nichts verderben können, denn Ellie hatte immer so getan, als gebe es keine Affären. Und wenn auch Graham von niemandem als guter Mensch bezeichnet worden wäre, so verfügte er doch über eine unermüdliche, ansteckende persönliche Energie, die das Familienleben stets auf Hochtouren laufen ließ.
    Und jetzt war das Traumhaus am Strand von Tiburon leer wie eine auf den Sand geschwemmte Muschel.
    Eines Abends nach Ellies Tod hatte Rowan allein in dem großen Wohnzimmer unter der hohen Balkendecke gestanden und laute Selbstgespräche geführt, ja, sogar gelacht, denn sie dachte, es sei niemand da – niemand, der es merkte, niemand, der es hörte. Die Glaswände waren dunkel; Teppich und Möbel spiegelten sich undeutlich darin. Sie sah die Flut nicht, die unablässig an den Pfählen leckte. Das Feuer war heruntergebrannt. Die ewige Kälte der Küstennächte kroch langsam durch die Zimmer. Sie hatte eine schmerzliche Lektion gelernt, dachte sie – daß wir nämlich, während die sterben, die wir lieben, jene verlieren, die uns beobachten, die Zeugnis ablegen, unsere winzigen kleinen, bedeutungslosen Gewohnheiten kennen und verstehen, diese Worte, die wir mit einem Stock ins Wasser schreiben. Und dann ist nichts mehr übrig als das endlose Fließen des Stroms.
    Kurz danach war dieser bizarre Augenblick eingetreten, wo sie beinahe diesen Fremden bei der Hand genommen und ihre ganze Geschichte vor ihm ausgebreitet hätte.
    Es war ein älterer Herr gewesen, weißhaarig – ein Brite offensichtlich, das war nach seinen ersten Worten klar. Und ausgerechnet auf dem Friedhof waren sie einander begegnet, wo ihre Adoptiveltern begraben waren.
    Es war ein wunderlicher alter Friedhof, voll verwitterter Denkmäler, am Rande der nordkalifornischen Kleinstadt, in der Grahams Familie früher gewohnt hatte. Diese Leute, keine Blutsverwandten, waren ihr völlig unbekannt gewesen, und sie hatte auch nie jemanden von ihnen kennengelernt. Nach Ellies Beerdigung war sie noch ein paarmal dagewesen, ohne allerdings so recht zu wissen, warum. An diesem speziellen Tag indes gab es

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