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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Graham passierte. Ellie war inzwischen zu krank, als daß sie sich noch viel hätte denken können. Und Rowan würde sich bestimmt keinen Stuhl ans Krankenbett heranziehen und sagen: »Mama, ich habe ihn umgebracht. Er hat dich unablässig betrogen. Er hat versucht, sich von dir scheiden zu lassen. Er konnte nicht mal die gottverdammten zwei Monate abwarten, die du noch brauchst, um zu sterben.«
    Du wirst das nicht tun. Du wirst niemandem das Leben nehmen. Die Erinnerung daran, wie sie dieses kleine Mädchen geohrfeigt hatte, war unerträglich – selbst die Erinnerung daran, wie sie sich gegen den Mann im Jeep gewehrt hatte. Und es war vollends zu schrecklich, sich an den Streit mit Graham zu erinnern.
    »Was soll das heißen, du läßt ihr die Papiere zustellen? Sie liegt im Sterben! Du wirst das mit mir zusammen durchstehen!«
    Er hatte sie bei den Armen gepackt, versucht, sie zu küssen. »Rowan, ich liebe dich, aber sie ist nicht mehr die Frau, die ich geheiratet habe…«
    »Nein? Nicht mehr die Frau, die du dreißig Jahre lang betrogen hast?«
    »Sie ist doch nur noch ein Ding da drin. Ich will sie in Erinnerung behalten, wie sie war…«
    »Mir erzählst du solchen Scheißdreck?«
    Das war der Moment gewesen, in dem seine Augen erstarrt waren und aller Ausdruck sein Gesicht verlassen hatte. Die Leute starben immer in so friedvoller Haltung. Am Rande der Vergewaltigung hatte der Mann im Jeep einfach abgeschaltet.
    Bevor der Krankenwagen gekommen war, hatte sie neben Graham gekniet und ihm das Stethoskop an den Kopf gelegt. Da war das Geräusch gewesen, so leise, daß manche Ärzte es gar nicht hören konnten. Aber sie hatte es gehört – das Geräusch von einer großen Menge Blut, das an einem Punkt zusammenströmte.
    Niemand machte ihr je irgendeinen Vorwurf. Wie auch? Sie war schließlich Ärztin, und sie war bei ihm gewesen, als diese »furchtbare Geschichte« passiert war, und weiß Gott, sie hatte getan, was sie konnte.
    Natürlich wußte jeder, daß Graham ein durch und durch zweitklassiger Mensch gewesen war – seine Partner in der Anwaltskanzlei, seine Sekretärinnen, sogar seine letzte Geliebte, diese törichte kleine Person namens Karen Garfield, die vorbeigekommen war und irgendein Andenken hatte haben wollen – jeder wußte es. Das heißt, jeder außer Grahams Frau. Aber es gab nicht den leisesten Verdacht. Wieso auch? Er war eines natürlichen Todes gestorben, als er gerade im Begriff gewesen war, sich mit dem Erbe seiner Frau und einer achtundzwanzigjährigen Idiotin, die bereits ihre Möbel verkauft und die Flugtickets nach St. Croix gekauft hatte, aus dem Staub zu machen.
    Aber er war eben nicht eines natürlichen Todes gestorben.
    Inzwischen kannte und verstand sie ihren diagnostischen Sinn; sie hatte ihn geübt und gekräftigt. Und als sie ihm die Hand auf die Schulter gelegt hatte, da hatte ihr der diagnostische Sinn gesagt: kein natürlicher Tod.
    Aber vielleicht war es auch jene trügerische Fügung im Muster der Ereignisse, die wir Zufall nennen. Und nichts weiter.
     
    Was ihr heute abend klar wurde, während sie langsam und beinahe ziellos durch das Krankenhaus wanderte, war die Tatsache, daß sie seit langem ein überwältigendes Verlangen danach spürte, einfach mit Michael Curry zu reden. Sie fühlte sich mit Michael Curry verbunden. Durch den Unfall auf See ebenso wie durch diese übersinnlichen Geheimnisse. Sie wollte – vielleicht ohne die Gründe recht zu verstehen – ihm und ihm allein erzählen, was sie getan hatte.
    Ihr Leben lang war sie eine Einzelgängerin gewesen, eine gute Zuhörerin, aber unweigerlich kälter als die Menschen in ihrer Umgebung. Dieser spezielle diagnostische Sinn, der ihr als Ärztin so hilfreich war, ließ ihr allzu schmerzlich bewußt sein, was andere wirklich empfanden.
    Sie war zehn oder zwölf Jahre alt gewesen, als sie endlich begriffen hatte, daß andere diesen Sinn nicht besaßen, manchmal nicht einmal einen Bruchteil davon. Daß ihre geliebte Ellie zum Beispiel nicht die leiseste Ahnung davon hatte, daß Graham sie weniger liebte als vielmehr brauchte, daß er es nötig hatte, sie zu schmähen und zu belügen, daß er darauf angewiesen war, daß sie immer anwesend und ihm immer unterlegen war.
    Rowan hatte sich diese Art von Ahnungslosigkeit manchmal selbst gewünscht – es nicht zu wissen, wenn Leute sie beneideten oder nicht leiden konnten. Nicht zu wissen, daß viele Leute andauernd logen. Sie liebte die Cops und die Feuerwehrmänner,

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