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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Familie? Leute von meinem Blut?
    »Mein Name ist Aaron Lightner«, sagte der Mann und drückte ihr eine kleine weiße Karte in die Hand. »Wenn Sie je etwas über die Familie Mayfair in New Orleans erfahren möchten, dann rufen Sie mich bitte unter allen Umständen an. Sie können mich in London erreichen, wenn Sie möchten. Melden Sie einfach ein R-Gespräch an. Ich werde Ihnen mit Vergnügen erzählen, was ich über die Familie Mayfair weiß. Keine alltägliche Geschichte, wissen Sie.«
    Betäubend waren diese Worte, und sie taten ihr in ihrer Einsamkeit unabsichtlich weh, wie sie auf diesem seltsamen, verlassenen kleinen Hügel so unerwartet an ihr Ohr drangen. Hatte sie hilflos ausgesehen, wie sie dagestanden hatte, unfähig zu antworten, unfähig auch nur zum leisesten Kopfnicken? Hoffentlich. Sie wollte nicht kalt oder unhöflich erscheinen.
    Aber es kam überhaupt nicht in Frage, ihm zu erklären, daß sie adoptiert worden war, von New Orleans fortgebracht am Tag ihrer Geburt. Es war unmöglich, ihm zu erklären, daß sie versprochen hatte, niemals dorthin zurückzukehren, niemals auch nur das Geringste über die Frau, die sie aufgegeben hatte, zu erfahren zu suchen. Ja, sie wußte ja nicht einmal, wie ihre Mutter mit Vornamen hieß. Und plötzlich fragte sie sich, ob er es wohl wußte? Wußte er vielleicht, welche Mayfair ein uneheliches Kind bekommen und weggegeben hatte?
    Am besten sagte sie gar nichts, damit er nicht irgendwelchen Tratsch mitnahm. Schließlich war es möglich, daß ihre richtige Mutter irgendwann geheiratet und sieben Kinder bekommen hatte. Und jetzt zu reden konnte der Frau dann nur schaden. Im Abstand der Meilen und der Jahre spürte Rowan keinen Groll gegen diese gesichtslose, namenlose Kreatur, nur eine triste, hoffnungslose Sehnsucht. Nein, sie sagte kein Wort.
    Er betrachtete sie eine ganze Weile prüfend, ganz unbeeindruckt von ihrer ungerührten Miene und ihrer unerschütterlichen Ruhe. Als sie ihm die Karte zurückgab, nahm er sie freundlich entgegen, hielt sie ihr aber weiter unschlüssig hin, als hoffe er, sie werde sie doch noch behalten.
    »Ich würde so gern mit Ihnen sprechen«, fuhr er fort. »Ich würde gern erfahren, wie das Leben der Verpflanzten gewesen ist, so weit weg vom heimatlichen Boden.« Er zögerte und setzte dann hinzu: »Ich kannte Ihre Mutter vor Jahren…«
    Er brach ab, als spüre er die Wirkung seiner Worte. Vielleicht störte ihn auch ihre blanke Ungehörigkeit. Rowan wußte es nicht. Der Augenblick hätte nicht schmerzhafter sein können, wenn er sie geschlagen hätte. Aber sie wandte sich nicht ab. Sie blieb regungslos stehen, die Hände in die Jackentaschen gebohrt. Er kannte meine Mutter?
    Wie gespenstisch. Und dieser Mann mit den heiteren blauen Augen betrachtete sie so geduldig, und das Schweigen war wie immer: ein Leichentuch, das sie umhüllte. Denn die Wahrheit war, daß sie kein Wort hervorbrachte.
    »Ich würde mich freuen, wenn Sie eine Kleinigkeit mit mir essen wollten – oder nur etwas trinken, wenn Sie nicht genug Zeit haben. Ich bin eigentlich kein so furchtbarer Mensch, wissen Sie. Es gibt da eine lange Geschichte…«
    Und ihr spezieller Sinn verriet ihr, daß er die Wahrheit sagte!
    Fast hätte sie seine Einladung angenommen – die ganze Einladung: über sich selbst zu reden und ihn über die anderen auszufragen. Schließlich hatte sie ihn nicht aufgesucht. Er war zu ihr gekommen und hatte ihr Informationen angeboten. Und da, in diesem Augenblick, war der Zwang über sie gekommen, ihm alles zu offenbaren, sogar die Geschichte von ihrer seltsamen Begabung – als habe er sie lautlos dazu aufgefordert und mit irgendeiner Kraft auf ihren Geist eingewirkt, so daß sie ihm ihre innersten Kammern öffnete.
    All die weitverzweigten Ideen, die sie zu all dem hatte, drängten blitzartig ans Licht.
    Ich habe in meinem Leben schon drei Menschen getötet. Ich kann mit meinem Zorn töten. Ich weiß, daß ich es kann. Das ist aus der Verpflanzten geworden – wie Sie mich nennen. Gibt es in der Familiengeschichte einer Platz für so etwas?
    War er leicht zurückgezuckt, als er sie angeschaut hatte? Oder war es nur die Sonne gewesen, die ihm schräg in die Augen schien? Die Stimmung aus dem Krankenzimmer war zurück gekommen, der Klang der leisen, beinahe unmenschlichen Schmerzensschreie. »Versprich es mir, Rowan – selbst wenn sie dir schreiben. Nie… nie…«
    »Du bist meine Mutter, Ellie, meine einzige Mutter. Wie könnte ich mehr

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