Hexenstunde
einen einfachen Grund: Der Grabstein war endlich fertig, und sie wollte sich vergewissern, daß Namen und Daten korrekt waren.
Auf der Fahrt nach Norden hatte sie ein paarmal daran gedacht, daß dieser neue Grabstein nun dastehen würde, solange sie lebte, und daß er danach umkippen und zerbrechen und im Unkraut versinken würde. Graham Franklins Verwandte hatte man von seiner Beerdigung gar nicht in Kenntnis gesetzt. Ellies Familie – die weit weg im trüben Süden wohnte – war von ihrem Tod auch nicht informiert worden. Und wenn Rowan nicht mehr lebte, wären alle, die die beiden je gekannt oder auch nur von ihnen gehört hatten, tot.
Spinnweben, zerrissen und verweht von einem Wind, dem ihre Schönheit gleichgültig war. Weshalb sich überhaupt darum kümmern? Aber Ellie hatte gewollt, daß sie sich darum kümmerte. Ellie hatte einen Grabstein gewollt, und Blumen. So hatte man es in New Orleans auch gehalten, als Ellie noch ein kleines Mädchen gewesen war. Erst auf dem Totenbett hatte sie endlich von daheim gesprochen, und die seltsamsten Dinge hatte sie gesagt – man habe Stella im Salon aufgebahrt, und die Leute seien gekommen, um Stella noch einmal zu sehen und sie zu küssen, obwohl ihr Bruder sie erschossen habe, und daß Lonigan und Söhne die Wunde in Stellas Kopf verschlossen hätten.
»Und Stellas Gesicht war so schön im Sarg. Sie hatte so schönes schwarzes Haar, lauter kleine Wellen, weißt du, und sie war so hübsch wie ihr Bild an der Wand im Wohnzimmer. Ich habe Stella geliebt! Stella ließ mich die Halskette halten. Ich habe auf einem Stuhl neben dem Sarg gesessen und mit den Füßen geschlenkert, und Tante Carlotta hat gesagt, ich sollte damit aufhören.«
Jedes Wort dieser seltsamen Rede hatte sich in Rowans Gedächtnis eingeprägt. Stella, ihr Bruder, Tante Carlotta. Sogar der Name Lonigan. Denn für ein paar kostbare Sekunden hatte es in dem Abgrund farbig aufgestrahlt.
Diese Leute waren mit Rowan verwandt. Rowan war genaugenommen Ellies Cousine dritten Grades. Und von diesen Leuten wußte Rowan nichts, und sie durfte auch weiterhin nichts wissen, wenn sie das Versprechen, das sie Ellie gegeben hatte, halten wollte.
Ellie hatte selbst in diesen qualvollen Stunden noch daran gedacht. »Geh nie dorthin zurück, Rowan. Rowan, denke an das, was du versprochen hast. Ich habe alle Bilder verbrannt, alle Briefe. Geh nicht dorthin zurück, Rowan. Hier ist dein Zuhause.«
»Ich weiß, Ellie. Ich werde es nicht vergessen.«
Und es fiel kein weiteres Wort über Stella. Über ihren Bruder. Über Tante Carlotta. Über das Bild im Wohnzimmer. Doch dann der Schock, als der Testamentsvollstrecker Rowan nach Ellies Tod das Dokument vorlegte: das sorgsam formulierte Gelöbnis – ohne die geringste Rechtsgültigkeit -, daß Rowan niemals nach New Orleans zurück kehren werde und daß sie niemals versuchen werde, heraus zu finden, wer ihre Familie war.
Aber in jenen letzten Tagen hatte Ellie von ihnen gesprochen. Von Stella an der Wand.
Und weil Ellie auch von Grabsteinen und Blumen gesprochen hatte, und davon, daß ihre Adoptivtochter sie in Erinnerung behalten solle, war Rowan an jenem Nachmittag nach Norden gefahren, um ihr Versprechen einzulösen, und auf dem kleinen Friedhof am Hang hatte sie den Engländer mit dem weißen Haar getroffen.
Er hatte in einer Kniebeuge vor Ellies Grab verharrt und sich die Namen notiert, die gerade erst in den Stein gemeißelt worden waren.
Er wirkte ein wenig verwirrt, als sie ihn störte, obgleich sie kein Wort gesagt hatte. Ja, eine Sekunde lang starrte er sie an, als wäre sie ein Geist. Fast hätte sie gelacht. Schließlich war sie trotz ihrer Größe eine zierliche Frau, und sie trug ihre übliche Bootskleidung – eine marineblaue Jacke und Jeans. Und er selbst wirkte so anachronistisch in seinem eleganten Westenanzug aus grauem Tweed.
Aber ihr spezieller Sinn verriet ihr, daß er ein Mann von guten Absichten war, und als er ihr erklärte, er habe Ellies Familie in New Orleans gekannt, da glaubte sie ihm. Aber sie war auch verwirrt, denn gern hätte sie diese Leute selbst gekannt.
Sie sagte nichts, als er auf seine reizende, lyrische britische Art weiterplauderte – über die Sonnenhitze und über den hübschen kleinen Friedhof. Schweigen war ihre eingefleischte Reaktion auf alles, selbst wenn es andere verwirrte oder ihnen Unbehagen bereitete. Und so erwiderte sie aus alter Gewohnheit gar nichts, was immer sie im Innern dachte. Er kannte meine
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