Hexenstunde
hinuntergingen, holte Rita einmal tief Luft und lief Deirdre dann nach.
Deirdre sah sie sofort mit ihrem wunderschönen Lächeln an. Aber als sie etwas sagen wollte, kam so gut wie kein Wort über ihre Lippen. Schließlich wisperte sie: »Rita Mae!«
Rita Mae beugte sich vor und küßte sie.
»Dee Dee«, flüsterte sie, »ich habe versucht, zu tun, was du gesagt hast. Aber ich konnte den Mann nicht finden. Die Karte war ruiniert.«
Deirdres Augen waren groß und leer. Sie erinnerte sich wohl gar nicht? Zumindest merkten Miss Millie und Miss Belle nichts; sie wünschten allen Vorübergehenden Guten Tag. Die arme alte Miss Belle merkte sowieso nie etwas.
Dann schien Deirdre sich doch zu entsinnen. »Es ist okay, Rita Mae«, sagte sie. Wieder das wunderschöne Lächeln. Sie drückte Rita Mae die Hand, beugte sich vor und gab ihr selbst einen Kuß auf die Wange. Tante Millie sagte: »Wir müssen jetzt gehen, Schatz.«
Das war Deirdre Mayfair, wie Rita sie kannte. Es ist okay, Rita Mae. Das süßeste Mädchen, das sie je gekannt hatte.
Nicht lange, und Deirdre war wieder im Sanatorium. Sie war barfuß auf der Jackson Avenue entlangspaziert und hatte Selbstgespräche geführt. Dann hieß es, sie sei in einer psychiatrischen Klinik in Texas, und danach hörte Rita nur noch, daß Deirdre Mayfair »unheilbar krank« sei und nie wieder nach Hause kommen werde.
Als die alte Miss Belle starb, riefen die Mayfairs Jerrys Dad an, wie sie es immer getan hatten. Vielleicht erinnerte sich Miss Carl gar nicht mehr an ihre Prügelei mit Rita Mae. Von überall her kamen Mayfairs zu dieser Beerdigung, aber keine Deirdre.
Mr. Lonigan graute es davor, die Gruft in Lafayette Nr. l zu öffnen. Auf diesem Friedhof gab es so viele verfallene Gräber, in denen die verrottenden Särge deutlich sichtbar waren und man sogar die Gebeine erkennen konnte. Es ekelte ihn an, dort jemanden zu bestatten.
Einmal war er nachmittags mit Rita hingegangen und hatte ihr die berühmten Gelbfiebergräber gezeigt, wo man auf einer langen Liste die Namen derer lesen konnte, die binnen weniger Tage nacheinander an der Epidemie gestorben waren. Er hatte ihr die Mayfair-Gruft gezeigt, ein großes Ding mit zwölf backofengroßen Gewölbekammern darin. Ein niedriger Eisenzaun zog sich ringsherum und umschloß ein winziges Rasenstück. Die beiden Marmorvasen an der Eingangsstufe waren voll mit frischen Schnittblumen.
»Na, sie halten es aber sehr gut in Schuß, nicht wahr?« hatte sie gesagt.
Mr. Lonigan hatte auf die Blumen gestarrt und nichts gesagt. Nach einer Weile hatte er sich geräuspert und dann auf die Namen derer gedeutet, die er kannte.
»Diese hier – Antha Marie, die ist 1941 gestorben. Deirdres Mutter.«
»Die aus dem Fenster gefallen ist«, sagte Rita. Wieder gab er keine Antwort.
»Diese hier – Stella Louise – starb 1929; sie war Anthas Mutter. Und der hier drüben, Lionel, ihr Bruder – ›gestorben 1929‹ -, der ist in ‘ner Zwangsjacke geendet, nachdem er Stella erschossen hatte.«
»Aber das soll doch nicht heißen, daß er seine eigene Schwester ermordet hat…«
»O doch, das soll es«, sagte Mr. Lonigan. Dann zeigte er ihr die anderen Namen, die weit zurück in die Vergangenheit reichten. »Miss Mary Beth, das war Stellas und Miss Carls Mutter. Miss Millie ist eigentlich Rémy Mayfairs Tochter; er war Miss Carls Onkel, und er starb in der First Street, aber das war vor meiner Zeit. An Julien Mayfair allerdings kann ich mich noch erinnern. Er war das, was man unvergeßlich nennt, dieser Julien. Bis zum Tage seines Todes war er ein gutaussehender Mann. Und sein Sohn Cortland war es auch. Weißt du, Cortland starb in dem Jahr, als Deirdre ihr Kind bekam. Nun hab’ ich Cortland aber nicht begraben; seine Familie wohnte in Metairie. Es hieß, all der Aufruhr um Deirdres Baby habe ihn umgebracht. Aber darauf kommt’s nicht an. Du siehst, daß Cortland schon achtzig Jahre alt war. Die alte Miss Belle war Miss Carls ältere Schwester. Aber Miss Nancy, na, die ist Anthas Schwester. Die nächste wird Miss Millie sein; denk’ an meine Worte.«
Rita interessierten sie alle nicht. Sie dachte an Deirdre und an jenen längst vergangenen Tag in St. Ro’s, als sie Seite an Seite auf der Bettkante gesessen hatten. Der Smaragd war ihr über Stella und Antha vererbt worden.
»Aber weißt du«, sagte Rita, »das Merkwürdigste ist ja, daß sie alle den Namen Mayfair tragen. Wieso nehmen sie nie den Namen der Männer an, die sie
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