Hexenstunde
wollen lieber zu Hause sein, Jerry«, meinte Rita. Hatte er denn keinen unterschriebenen Totenschein?
Doch. Natürlich. Aber er haßte diese alten Familien.
»Du weißt nie, was sie als nächstes machen«, fluchte er. »Nicht bloß die Mayfairs. Ich meine alle die alten.«
Sie war erstaunt, daß ihr Mann so viel redete. Die Mayfairs bedrückten ihn, soviel war klar, wie sie schon seinen Daddy bedrückt hatten, und niemand hatte Rita je die ganze Geschichte erzählt.
Rita ging in die Kapelle zur Totenmesse für Miss Nancy. Sie folgte der Prozession mit ihrem eigenen Auto. Es ging die First Street hinunter, vorbei an dem alten Haus, mit Rücksicht auf Deirdre. Aber es gab kein Anzeichen dafür, daß Deirdre all die schwarzen Limousinen, die da vorüberglitten, auch nur sah.
So viele Mayfairs gab es. Ja, woher um alles in der Welt kamen sie nur alle? Rita erkannte New Yorker Töne und kalifornische, sogar Südstaatenklänge aus Atlanta und Alabama. Und dann alle die aus New Orleans! Sie konnte es nicht glauben, als sie die Kondolenzliste überflog. Da waren Mayfairs aus der Stadt und aus den Vororten, aus Metairie und von der anderen Seite des Flusses.
Sogar ein Engländer war da, ein weißhaariger Gentleman im Leinenanzug, der tatsächlich einen Spazierstock benutzte. Er blieb mit Rita ein paar Schritte zurück. »Meine Güte, wie schrecklich warm es heute ist«, sagte er in seinem eleganten britischen Tonfall. Als Rita auf dem Weg gestolpert war, hatte er stützend ihren Arm ergriffen. Sehr nett von ihm.
Was mochten wohl all diese Leute von dem schrecklichen alten Haus halten, fragte sie sich. Und vom Lafayette-Friedhof mit seinen Modergrüften. Alle drängten sich durch die engen Pfade und stellten sich auf die Zehenspitzen, um über die hohen Grabmale hinwegsehen zu können. Moskitos sirrten im hohen Gras. Und jetzt hielt sogar einer der Touristenbusse vor dem Tor. Die Touristen waren sicher entzückt von so etwas. Na, schaut es euch nur an!
Aber der große Schock war die Cousine, die Deirdre Mayfairs Baby genommen hatte. Denn da war sie nun, Ellie Mayfair aus Kalifornien. Jerry zeigte sie Rita, während der Priester die Abschiedsworte sprach. Eine große, dunkelhaarige Frau in einem ärmellosen blauen Leinenkleid und mit einer wunderschönen Sonnenbräune. Sie trug einen großen weißen Hut, einen Sonnenhut, und eine dunkle Brille. Sah aus wie ein Filmstar. Wie sie sie umdrängten! Leute griffen nach ihrer Hand, küßten die bepuderten Wangen. Und wenn sie sich ihr ganz nah zuneigten – fragten sie dann nach Deirdres Tochter?
Rita wischte sich über die Augen. Rita Mae, sie wollen mir mein Baby wegnehmen. Was hatte sie nur mit dem kleinen weißen Kartenfetzen angefangen, auf dem das Wort Talamasca gestanden hatte? Wahrscheinlich steckte er hier irgendwo in ihrem Gebetbuch. Sie warf niemals etwas weg. Vielleicht sollte sie mit dieser Frau sprechen, um sie zu fragen, wie sie mit Deirdres Tochter Kontakt aufnehmen könnte. Vielleicht sollte das Mädchen eines Tages wissen, was Rita zu erzählen hatte. Andererseits, mit welchem Recht mischte sie sich ein?
Fast wäre sie an Ort und Stelle zusammen gebrochen; man stelle sich vor, die Leute hätten geglaubt, sie weine um die alte Miss Nancy. Zum Lachen. Sie hatte sich abgewandt und versucht, ihr Gesicht zu verbergen, und dann hatte sie bemerkt, daß der Engländer, der Gentleman, sie anstarrte. Sein Gesicht hatte einen wirklich seltsamen Ausdruck, als ob er befürchte, sie könne zu weinen anfangen, und dann weinte sie wirklich und winkte ihm zugleich zu, um ihm zu verstehen zu geben, daß alles in Ordnung sei. Aber er kam trotzdem zu ihr herüber.
Er reichte ihr seinen Arm wie zuvor und führte sie ein kleines Stück weit weg, und da stand eine von diesen Bänken, und sie setzte sich. Als sie aufblickte, hätte sie schwören können, Miss Carl schaue zu ihr und dem Engländer herüber, aber Miss Carl war sehr weit entfernt, und die Sonne schien ihr auf die Brillengläser. Wahrscheinlich konnte sie sie überhaupt nicht sehen.
Dann gab der Engländer ihr eine kleine weiße Karte und sagte, er würde sich gern einmal mit ihr unterhalten. Worüber denn nur? dachte sie, aber sie steckte die Karte doch in ihre Tasche.
Es war spät abends, als sie sie wiederfand; sie hatte nach dem Gebetskärtchen von der Beerdigung gesucht. Und da war sie nun, die kleine Karte, die der Mann ihr gegeben hatte, und da waren die Namen wieder, nach all den Jahren: Talamasca und Aaron
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