Hexenstunde
Lightner.
Rita blätterte in ihrem Gebetsbuch nach der alten Karte oder dem, was davon übrig war. Kein Zweifel, es war die gleiche, und auf die neue hatte der Engländer mit Tinte den Namen des »Monteleone Hotels« in der Stadt sowie seine Zimmernummer geschrieben.
Rita ging zu Jerry; er war noch auf und saß trinkend am Küchentisch.
»Rita Mae, du darfst mit diesem Mann nicht reden. Du darfst ihm nichts über diese Familie erzählen.«
»Aber Jerry, ich muß ihm erzählen, was damals passiert ist, ich muß ihm erzählen, daß Deirdre versucht hat, mit ihm Kontakt aufzunehmen.«
»Das ist Jahre her, Rita Mae. Das Baby ist inzwischen erwachsen. Sie ist Ärztin, wußtest du das? Sie wird Chirurgin, hab’ ich gehört.«
»Das ist mir egal, Jerry.« Und dann verlor Rita Mae die Fassung, aber trotz aller Tränen tat sie etwas Merkwürdiges: sie starrte auf die Karte und prägte sich alles ein, was darauf stand. Sie lernte die Zimmernummer des Hotels und die Telephonnummer auswendig.
Und wie sie es sich gedacht hatte, nahm Jerry ihr unvermittelt die Karte aus der Hand und steckte sie in seine Hemdtasche. Sie sagte kein Wort. Sie weinte einfach weiter. Jerry war der liebste Mann der Welt, aber er würde es nie verstehen.
»Es war nett, daß du zur Beerdigung gegangen bist, Schatz«, sagte er.
Rita sprach nicht mehr über den Mann. Sie wollte nichts gegen Jerrys Willen tun. Nun, wenigstens in diesem Moment war sie noch nicht dazu entschlossen.
»Aber was weiß denn das Mädchen da draußen in Kalifornien über seine Mutter?« fragte Rita. »Ich meine, weiß sie denn, daß Deirdre sie nie weggeben wollte?«
»Du mußt dich da raushalten, Schatz.« Jerry schüttelte den Kopf, goß sich Bourbon in sein Glas und trank es halb leer. »Schatz, wenn du wüßtest, was ich über diese Leute weiß…«
Jerry trank wirklich zuviel Bourbon. Das sah sie. Jerry war kein Klatschmaul. Ein guter Leichenbestatter durfte kein Klatschmaul sein. Aber jetzt fing er an zu reden, und Rita ließ ihn gewähren.
»Deirdre hatte nie eine Chance in dieser Familie«, sagte er. »Man könnte sagen, sie war verflucht von Geburt an. Hat Daddy jedenfalls gesagt.«
Jerry war ein kleiner Schuljunge gewesen, als Deirdres Mutter Antha bei dem Sturz aus dem Dachbodenfenster gestorben war. Aber Jerry hatte schon bei seinem Daddy gearbeitet.
»Ich sage dir, wir haben ihr Gehirn von den Steinplatten gekratzt. Es war schrecklich. Sie war erst zwanzig Jahre alt und so hübsch. Hübscher noch, als Deirdre nachher wurde. Und du hättest die Bäume im Garten dort sehen sollen. Schatz, es war, als ob genau über dem Haus ein Hurrikan getobt hätte, so sehr schwankten die Bäume. Sogar die steifen Magnolien krümmten und knickten sich.«
»Ja, das habe ich auch schon erlebt«, sagte Rita, aber dann schwieg sie gleich wieder, damit er weiterredete.
»Das Schlimmste kam, als wir wieder hier waren und Daddy sich Antha genau anschaute. Sofort sagte er: ›Siehst du die Schrammen an den Augen? Also, das ist niemals bei dem Sturz passiert. Unter dem Fenster standen keine Bäume.‹ Und dann stellte Daddy fest, daß das eine Auge regelrecht aus der Höhle gerissen war. Nun wußte Daddy aber, was in solchen Situationen zu tun war. Er hängte sich sofort ans Telephon und rief Dr. Fitzroy an. Man müßte eine Autopsie vornehmen, meinte er. Und dabei blieb er auch, als Dr. Fitzroy anfing, mit ihm zu diskutieren. Schließlich rückte Dr. Fitzroy damit heraus, daß Antha Mayfair den Verstand verloren und versucht hätte, sich selbst die Augen auszukratzen. Miss Carl hätte versucht, sie daran zu hindern, und da wäre Antha auf den Dachboden geflohen. Sicher, sie wäre aus dem Fenster gefallen, aber da wäre sie schon völlig von Sinnen gewesen. Und Miss Carl hätte alles mit ansehen müssen. Nun gäbe es doch auf der ganzen Welt keinen Grund dafür, daß die Leute sich das Maul zerreißen oder daß die Zeitungen die Sache bringen sollten. Hatte die Familie nicht schon wegen Stella genug zu leiden gehabt?
›Für mich sieht’s jedenfalls nicht so aus, als hätte sie es sich selbst zugefügt‹, beharrte Daddy, ›aber wenn Sie bereit sind, darauf hin einen Totenschein auszustellen – na, ich schätze, dann hab’ ich getan, was ich konnte.‹ Und so gab es eben keine Autopsie. Aber Daddy wußte, wovon er redete. Natürlich mußte ich schwören, daß ich keiner Menschenseele davon erzählen würde. Aber er wußte, daß er mir vertrauen konnte. Und ich vertraue
Weitere Kostenlose Bücher