Hexenstunde
stirbt.«
Sie stirbt.
Rita wartete, bis Jerry zur Arbeit gegangen war. Dann rief sie an. Sie wußte, daß die Telephonrechnung sie verraten würde und daß sie Jerry wahrscheinlich irgendwann etwas würde sagen müssen. Aber darauf kam es jetzt nicht an. Jetzt kam es darauf an, der Vermittlung klarzumachen, daß sie eine Nummer auf der anderen Seite des Ozeans anzurufen hatte.
Es war eine freundliche Frau, die sich auf der anderen Seite meldete, und sie übernahm tatsächlich die Gebühren, wie der Engländer es versprochen hatte. Zuerst verstand Rita nicht alles, was die Frau sagte – sie sprach so schnell -, aber schließlich stellte sich heraus, daß Mr. Lightner in den Vereinigten Staaten war. Er war drüben in San Francisco. Die Frau würde ihn sofort anrufen. Ob Rita vielleicht ihre Telephonnummer hinterlassen wollte?
»O nein, ich möchte nicht, daß er hier anruft«, antwortete sie. »Richten Sie ihm nur folgendes von mir aus. Es ist sehr wichtig: Rita Lonigan hat ›im Zusammenhang mit Deirdre Mayfair‹ angerufen. Können Sie sich das notieren? Sagen Sie ihm, Deirdre Mayfair ist sehr krank; es geht rapide bergab mit ihr. Sagen Sie ihm, daß sie vielleicht stirbt.«
Als sie den Hörer auflegte, liefen ihr die Tränen übers Gesicht.
In der Nacht träumte sie von Deirdre, aber als sie aufwachte, konnte sie sich an nichts erinnern – nur daß Deirdre dagewesen war, im Zwielicht, und daß der Wind in den Bäumen hinter St. Rose de Lima’s gerauscht hatte.
Rita stand früh auf und ging zur Messe. Sie trat an den Altar der Seligen Jungfrau und zündete eine Kerze an. Bitte laß Mr. Lightner herkommen, betete sie. Bitte laß ihn mit Deirdres Tochter sprechen.
Und während sie noch betete, begriff sie, daß es nicht das Erbe war, was ihr Sorgen bereitete, oder der Fluch auf dieser wunderschönen Smaragdkette. Denn Rita traute Miss Carl nicht zu, daß sie gegen das Gesetz verstoßen würde, so gemein sie auch sein mochte, und Rita glaubte auch nicht, daß es so etwas wie einen Fluch wirklich gab.
Woran sie glaubte, war die Liebe, die sie im innersten Herzen für Deirdre Mayfair empfand.
Und sie glaubte, daß ein Kind das Recht hatte, zu wissen, daß seine Mutter einst das liebste und süßeste Geschöpf der Welt gewesen war, ein Mädchen, das jedermann geliebt hatte – ein wunderschönes Mädchen damals im Frühling 1957, als ein gutaussehender, eleganter Mann im Zwielicht des Gartens zu ihr gesagt hatte: »Meine Geliebte.«
6
Volle zehn Minuten lang stand er unter der Dusche, aber er war noch immer sturzbetrunken. Dann schnitt er sich zweimal beim Rasieren. Nicht weiter schlimm – nur ein deutlicher Hinweis darauf, daß er sich sehr würde vorsehen müssen mit dieser Lady, die da kam, dieser Ärztin, dieser mysteriösen Unbekannten, die ihn aus dem Meer gefischt hatte.
Tante Viv half ihm ins Hemd. Hastig nahm er noch einen Schluck Kaffee.
Schmeckte scheußlich, obwohl es guter Kaffee war; er hatte ihn selbst gekocht. Ein Bier- das war es, was er wollte. Jetzt nicht gleich ein Bier zu trinken, das war wie nicht zu atmen. Aber das Risiko war einfach zu groß.
»Aber was hast du in New Orleans vor?« fragte Tante Viv klagend. Ihre kleinen blauen Äuglein sahen wäßrig aus, wund. Mit ihren mageren, knotigen Händen rückte sie die Aufschläge seiner Khakijacke zurecht. »Brauchst du auch bestimmt keine dickere Jacke?«
»Tante Viv, es ist August in New Orleans.« Er küßte sie auf die Stirn. »Mach dir keine Sorgen um mich«, sagte er. »Ich komme prima zurecht.«
»Michael, ich verstehe nicht, wieso…«
»Tante Viv, ich rufe dich an, wenn ich da bin. Versprochen. Und du hast die Nummer vom ›Pontchartrain‹, wenn du vorher anrufen und eine Nachricht für mich hinterlegen willst.«
Er hatte um dieselbe Suite gebeten, die sie vor vielen Jahren gehabt hatte, als er elf Jahre alt gewesen war und sie mit seiner Mutter dort besucht hatte – die große Suite über der St. Charles Avenue mit dem Stutzflügel darin. Ja, sie wüßten, welche Suite er meinte. Und jawohl, er könne sie haben. Und ja, der Flügel sei noch da.
Dann hatte die Airline ihm einen Platz in der Ersten Klasse reserviert, am Gang, um sechs Uhr früh. Kein Problem. Puzzlesteinchen, die sich eins nach dem anderen an ihren Platz fügten.
Und das alles war Dr. Morris zu verdanken, und dieser mysteriösen Dr. Mayfair, die jetzt unterwegs zu ihm war.
Erst hatte er getobt, als er erfahren hatte, daß sie Ärztin
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