Hexensturm
aus. »Für Kjell war es zu spät, aber nicht für dich. Was immer nötig sein mag, um dich von hier fortzubringen, werde ich tun. Um mich selbst habe ich keine Angst. Und meinem Sohn kann Hyto nichts mehr anhaben – er ist jetzt bei seinem Vater, in Sicherheit.«
Da gab es nichts zu überlegen. Smoky und die anderen mochten hierher unterwegs sein, aber es war nur eine Frage der Zeit, wann Hyto die Beherrschung verlieren und mich töten würde. Er war einfach zu wütend. Zwar wollte er Smoky unbedingt damit quälen, mich vor seinen Augen in Stücke zu reißen, aber Hyto besaß nicht so viel Selbstbeherrschung, wie er gern glauben wollte. Die meisten Soziopathen rasteten irgendwann aus, und er war ein Drache am Rande des Wahnsinns.
Mein ganzer Körper protestierte, aber ich zwang mich, aufzustehen. »Gehen wir. Du musst mitkommen. Ich brauche deine Hilfe, und ich kann dich nicht hier zurücklassen.«
Sie nickte. »Mein Sohn braucht meinen Schutz nicht mehr. Ich hoffe, er ist bei seinen Ahnen. Und vielleicht kann ich mich in den Augen von Thor und Freya wieder reinwaschen.«
»Darf ich ein paar Worte für ihn sprechen?«
»Ich würde mich geehrt fühlen, Priesterin.«
Sie schlang einen Arm um meine Taille und half mir hinüber zu dem Käfig. Ich starrte den erschlafften Körper an, und Tränen liefen mir übers Gesicht. Er hatte gar keine Chance gehabt. Er war jetzt alt genug, um sich eine Frau zu suchen, aber er würde niemals heiraten, sich nie in der Schlacht beweisen, nie zu dem Mann heranwachsen, der er hätte werden können. Und daran war einzig und allein Hyto schuld.
Ich schob die Arme durch das Gitter und legte die Hände auf den kalten Körper. Ich biss mir auf die Lippe und begann, tief und langsam ein- und auszuatmen und meine Schmerzen zu ignorieren. Dann ließ ich mich in Trance sinken und suchte nach der Mondmutter, tastete nach ihrer Gegenwart. Sie hüllte mich ein und nahm mir für einige Augenblicke die Schmerzen, während ich unser Gebet für die Toten flüsterte.
»Was Leben war, ist verdorrt. Was Gestalt war, verfällt. Sterbliche Ketten lösen sich, und die Seele fliegt frei. Mögest du den Weg zu deinen Ahnen finden. Mögest du den Weg zu den Göttern finden. Mögen Lieder und Legenden deines Mutes und deiner Tapferkeit gedenken. Mögen deine Eltern stolz auf dich sein und deine Kinder dein Geburtsrecht weitertragen. Schlaf und wandle nicht länger.«
Meine Hand formte das Zeichen für den Pfad der Toten. Ich atmete noch einmal tief aus und drehte mich um. Hanna weinte stumm, doch sie brachte ein gequältes Lächeln zustande und führte mich zum Tisch, wo wir uns beide die Hände wuschen.
Sie drückte mir eine dicke Scheibe Brot in die Hand, mit Käse bestrichen. Eine Schüssel Fleischbrühe stand auf dem Tisch, daneben eine große Scheibe Dörrfleisch. Ich aß hastig und schlürfte die Suppe, während sie mich wieder mit ihren Salben behandelte.
»Danke dir«, sagte ich leise, innerlich wie betäubt.
»Du wirst die Kraft brauchen. Die Kälte draußen ist grausam.«
»Ich weiß. Ich war schon einmal hier. Aber ich weiß auch, dass das Leben bei Hyto wesentlich schlimmer ist. Lieber sterbe ich im Schnee. Ich traue ihm nicht zu, mich leben zu lassen, bis sein Sohn kommt. Er hat sich an mir ausgetobt, aber es hätte noch viel schlimmer kommen können. Und nächstes Mal …«
»Hier, zieh das an.« Sie breitete die Sachen aus, die sie mir vorhin in die Arme gedrückt hatte – Unterwäsche, Hose, Hemd und Umhang. Ich schlüpfte hinein und verzog das Gesicht, als der derbe Stoff über sämtliche Blutergüsse und Schürfwunden glitt.
Während ich mich anzog, holte Hanna unter dem Tisch zwei Rucksäcke hervor, die sie schon mit Essen, Wasser und anderen Dingen bepackt hatte, die ich nicht sehen konnte. Als ich fertig war, blickte ich mich nach irgendetwas um, das ich als Waffe gebrauchen könnte. Ich hatte meine Magie, aber es wäre schön gewesen, etwas mit langer, scharfer Klinge in der Hand zu halten. Hanna bemerkte meinen suchenden Blick.
»Du wirst keine Waffen finden.« Sie schüttelte den Kopf. »Nicht hier – außer den Küchenmessern. Die nehmen wir mit. Hyto hielt sie in meinen Händen wohl nicht für gefährlich.« Sie reichte mir ein sauberes Messer mit breiter Klinge, höllisch scharf und schwer. Ich steckte es in den Gürtel, der meine Pelzweste zusammenhielt.
»Wir sollten aufbrechen. Wie lange bleibt er normalerweise weg?«
»Meistens den ganzen Tag, aber manchmal
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