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Hexentage

Hexentage

Titel: Hexentage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Wilcke
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beizuwohnen. Daran, daß dieser Gerichtstag mit der Vollstreckung der Todesstrafe beschlossen würde, bestand nicht der geringste Zweifel. Unweit der Rathaustreppe war am Marktplatz bereits ein hölzernes Podest errichtet worden, das der Scharfrichter unter dem Raunen vieler hundert Schaulustiger betrat.
    Der Scharfrichter, ein etwa sechzigjähriger untersetzter Mann, dessen hellblaue Augen wachsam aus einem wettergegerbten Gesicht hervorstachen, richtete seinen Blick mit stoischer Miene zum Rathaus und stützte sich auf ein mächtiges Zweihandschwert, das annähernd die Länge seines eigenen Körpermaßes erreichte. Neben dem Podest hatten sich die Vögte der dem Gogericht zugehörigen vierzehn Kirchspiele versammelt, die prächtig herausgeputzt und mit in der Sonne blinkenden Degen diesem Gerichtstag beiwohnten.
    Glockengeläut aus dem Turm der Marienkirche setzte ein und übertönte das Gemurmel der dichtgedrängten Masse. Annähernd die halbe Stadt mochte hier erschienen sein. Auch in den Fenstern der umliegenden Häuser zwängten sich die Schaulustigen, um den Ablauf des Gerichtstages mitzuverfolgen. Jakob ließ seinen Blick über die Menge wandern, in der er ebenso viele Frauen wie Männer ausmachte, Pastoren beider Konfessionen, wohlhabende Kaufleute und abgerissene Bettler, die sich allesamt aufgeregt schwatzend aneinander drückten. Kinder tollten |55| lärmend herum und neckten den Scharfrichter mit hämischen Grimassen, doch der ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Erst als ein besonders übermütiger Knabe seine Hose öffnete und an das Podest urinieren wollte, machte der Scharfrichter einen energischen Schritt nach vorn und verscheuchte das vorwitzige Kind mit harschen Worten.
    Jakob erblickte Wilhelm Peltzer, der aus der Rathaustür trat, die Treppe hinabstieg und sie zu sich winkte. Mühsam bahnten sie sich den Weg durch die Reihen. Hier, vom Fuß der Treppe aus, konnten sie das Geschehen hervorragend überblicken.
    »Ich grüße Euch. Ah, Jakob, wie ich sehe, habt Ihr Euch meine Worte durch den Kopf gehen lassen.« Peltzer schaute zufrieden auf Jakobs Hut. Bevor er das Haus des Bürgermeisters verlassen hatte, hatte Jakob die roten Federn von seiner Kopfbedeckung entfernt und auch auf die goldbesetzte Schärpe verzichtet.
    Auf der Rathaustreppe hatten nun auch der Gograf und die beiden Schöffen ihre Plätze eingenommen. Der Graf war in feierlichem Aufzug erschienen, trug sein Kriegsgewand, Harnisch und Schwert und hielt in der rechten Hand den weißen Gerichtsstab. So würdevoll der Gograf hier auch auftreten mochte, stellte er doch nichts weiter als ein Sprachrohr für die Verkündigung des Urteils dar, das bereits Tage zuvor in einer geheimen Sitzung abgefaßt worden war. Jakob wußte, daß die wahre Macht des Gogerichts in den Händen des Rates lag, der aus seinen Reihen die Schöffen abstellte, denen der Gograf seinen Diensteid zu leisten hatte. Der Rat leitete die Verhaftung einer beschuldigten Person ein und führte auch die Verhöre durch.
    Plötzlich war eine nervöse Unruhe in der Menge auszumachen, die sich noch verstärkte, als sich eine Gasse zwischen den dichtgedrängten Leibern bildete und einem Pferdekarren Platz gemacht wurde. Das Plappern ging in wüste Schmährufe über, während man der Hexe den Weg bahnte.
    Jakob konnte die Hexe erst erkennen, als der Karren einige Meter vor ihm entfernt zum Stehen kam. Grete Wahrhaus, eine |56| füllige Frau von vielleicht fünfzig Jahren, stierte regungslos auf ihre Füße und ließ die Rufe, die sie als Hexe und Satansweib beschimpften, scheinbar unbeachtet.
    »Tötet die Hexe! Bringt sie um!« keifte eine Frau neben Jakob. Sie kreischte so schrill, daß er ein Stück von ihr abrückte.
    Grete Wahrhaus wurde von einem Büttel rüde vom Wagen gedrängt. Da ihre Hände auf dem Rücken zusammengebunden waren, kam sie ins Straucheln und fiel auf die Knie. Ein Stadtdiener packte sie am Arm und führte sie die Treppe hinauf, wobei er dem alten Brauch entsprechend ein gezogenes Schwert vor sich hertrug. Jakob musterte die Frau nun aus der Nähe. Die Hexe machte auf ihn einen teilnahmslosen Eindruck, als wäre sie sich nicht klar darüber, was hier eigentlich mit ihr geschah, und doch verzerrte sie bei jeder Bewegung das Gesicht. Unter dem zerrissenen Ärmel ihres schmutzigen Hemdes aus grober Wolle konnte Jakob erkennen, daß ihre Gelenke geschwollen und von blauen Flecken bedeckt waren. Ihre geschorenen Haare standen zerzaust vom Kopf ab. Grete

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