Hexenzorn
mögliche Hexe«, sagte B. »Das war ihr Name. Ihr Geschäft ist das Mögliche .«
Marla nickte beeindruckt. Er war genauso schnell darauf gekommen wie sie selbst.
Dann sah sie die Hexe, ganz in Weiß gekleidet saß sie auf dem Stuhl. Zunächst hatte sie - eigentlich es , aber aus Gründen der Bequemlichkeit sie - noch keine materielle Substanz und gewann erst langsam an Dichte.
»Ich hatte drei erwartet«, sagte sie gereizt. Die mögliche Hexe war eine alte Frau, sie trug eine weiße Robe und saß stocksteif auf dem Stuhl (Marla konnte sich auch nicht vorstellen, dass es irgendeine andere Möglichkeit gab, auf diesem Stuhl zu sitzen), die Finger in das Holz der schmalen Armlehnen gekrallt, als versuche sie, ihn daran zu hindern, einfach wegzufliegen, was durchaus passieren konnte, soweit Marla wusste. Ihr Gesicht war blass und ihr Haar fast vollkommen grau, nur von ein paar schwarzen Strähnen durchzogen. Ihre Augen waren nicht die eines Menschen. Es waren zwar auch nicht die eines Insekts - mit den schwarzen Glassplittern, ein paar klaren Kristallen und einigen Fragmenten spiegelblanken Silbers, aus denen sie zu bestehen schienen, hatten sie aber durchaus Ähnlichkeit mit Facettenaugen. »Manchmal seid ihr zu viert, und der Vierte ist ein Gott, noch seltener zu fünft, der Fünfte ein sehr alter Sterblicher, aber fast immer sind es drei. Zwei sind noch einmal beträchtlich weniger, das macht es einfacher, aber es ist nicht das, was ich erwartet habe, nicht das, was am wahrscheinlichsten war.«
»Ihr wisst natürlich, wer wir sind«, sagte Marla. »Und ich glaube, wir wissen, wer Ihr seid: die mögliche Hexe, nicht wahr?«
»Ich stehe im Zentrum der Dinge«, sagte sie. »Doch stehe ich nicht nur. Ich kreise, ich oszilliere, ich vibriere. Jede der möglichen Welten zieht an meinen Augen vorüber. Einige sind wahrscheinlicher als die anderen. Manchmal bin ich tot.
Dieser Tage bin ich die meiste Zeit tot. Deshalb habe ich so lange gebraucht, euch zu finden. Es gibt so viele mögliche Welten - sich in eine bestimmte zu vertiefen ist schwer, jetzt, da ich in so wenigen existiere. Doch hier bin ich. Und ihr beide seid gekommen. Und es ist jetzt , dieser eine Zeitpunkt, zu dem ihr gekommen seid, was bedeutet, dass ihr nicht gekommen seid, um Schaden wiedergutzumachen, sondern um ihn zu verhindern.«
Marla nickte. »Wir müssen Mutex aufhalten. Wir müssen wissen, wo er morgen sein wird, dann, wenn ich in der Lage sein werde, ihn aufzuhalten.« Vorausgesetzt, Ch’ang Hao brachte die Schlange. Ch’ang Hao war der Vierte, den die Hexe erwähnt hatte, aber Marla hatte keine Ahnung, wer dieser ›sehr alte Sterbliche‹ sein sollte.Vielleicht ein potentieller Verbündeter, der gestorben war, noch bevor Marla ihn kennenlernen konnte.
»Aber du willst nicht wissen, ob du ihn aufhalten wirst?« Die insektenhaften Augen der Hexe funkelten.
»Natürlich will ich das wissen, falls Ihr es wisst«, sagte Marla.
»Zu eng liegen die Dinge beieinander«, sagte sie umgehend. »Ich sehe ebenso viele Pfade in die eine Richtung wie in die andere. Alles verzweigt sich. Jede Entscheidung, jede Möglichkeit. Das Universum wählt nicht aus. Es tut alles , selbst sehr unwahrscheinliche Dinge, irgendwo. Es gibt einige sehr unwahrscheinliche Orte im Universum. Auf diesem Ast, in dieser Welt, sind beide Wege möglich. Ihr mögt gewinnen, ihr mögt verlieren. Es spielt keine große Rolle. Verliert hier, gewinnt woanders. Was sollen die Sorgen? Das sage ich zu jedem, der zu mir kommt, und das sind viele Menschen, wenn man all die verschiedenen Welten berücksichtigt.«
»Für mich spielt es eine Rolle«, sagte Marla bestimmt. Die Theorie über mögliche Parallelwelten interessierte sie genauso wenig wie Daltons Geschwafel darüber, dass die Welt eine Computersimulation sein sollte. Vielleicht stimmte es sogar - jetzt, da sie hier stand, glaubte sie daran, dass es mehrere Welten gab, dass jede Entscheidung zur Entstehung eines neuen Universums führte, hinunter bis auf die Ebene der Atome. Aber sie lebte nur in einer Welt, und das war alles, was zählte. Alles andere war irrelevant, außer im Rahmen von Stammtischphilosophie.
»Ja, ich weiß. Beschränkt ist die Sicht.« Die Hexe hatte offensichtlich keine besonders gute Laune, dachte Marla. Andererseits war das nur zu verständlich, denn schließlich war sie die meiste Zeit über tot. »Ich kann euch nichts mit Sicherheit sagen. Die Gegenwart ist endlich, gewaltig allerdings, die Zukunft
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