Hexer-Edition 06: Die Chrono-Vampire
einer Art und Weise an meinen Nerven, dass ich nicht mehr klar denken konnte. Plötzlich packte mich die Angst, in dieser Gruft lebendig begraben zu sein. Und dann gingen meine Nerven mir durch. Verzweifelt rannte ich die Treppe hoch und hämmerte mit aller Macht gegen die Tür.
Shannon blieb vor einem alten Haus stehen und sah zum Dachfenster hoch. Das war ein Weg, wie er ihn liebte; ein Weg, auf dem ihn niemand sehen konnte und auf dem er zu kommen und zu gehen verstand wie die Nacht, lautlos und schnell. Aber zuvor musste er dafür sorgen, dass er sich im Inneren des Labyrinths zurechtfand. Er suchte sich eine abgelegene Ecke, verschmolz mit ihren Schatten und versetzte sich in Trance.
Seine Gedanken bewegten sich mit spielerischer Leichtigkeit durch das weitgespannte, dreidimensionale Spinnennetz, das ihn seine besonderen Fähigkeiten sehen ließen. Er folgte einem Strang, der sich deutlich von den übrigen abhob und ihm den direkten Weg zu seinem Ziel wies. Dabei schälten sich die Umrisse von Zimmern und Hallen aus dem gleichförmig grauen Hintergrund, einmal eine verborgene Tür, und dann wieder Menschen und Tiere, die wie Schlafwandler dahinschritten und mit menschlichen Bewegungen irgendwelche sinnlosen Dinge taten.
Shannon war so zufrieden, wie es jemand sein kann, der am Beginn einer Aufgabe steht und sich bestens vorbereitet weiß. Er wusste, dass es Tage dauern konnte, bis er sein Ziel erreichte, das Herz des Labyrinths, das sich als kobaltblaue Sonne im Zentrum des Spinnennetzes abzeichnete.
Doch soviel Zeit blieb nicht. Behutsam tastete er weiter, sondierte und suchte mit der Magie, die ihm der Alte vom Berge geliehen hatte, tastete die einzelnen Stränge des Spinnennetzes ab und fand schließlich, was er suchte.
Es waren vier grauschimmernde Sterne, die sich in einiger Entfernung um die dunkle Sonne bewegten. Der hellste dieser Sterne stellte Adurias dar, die magisch befähigte Kreatur des Labyrinths; dies hatte der Meister ihm mitzuteilen geruht. Bei den drei anderen Sternen musste es sich um Gehilfen oder Leibwächter handeln, um niedere Kreaturen, die ihn kaum stören oder behindern würden.
Shannons Geist kehrte in die Wirklichkeit zurück. Er stand auf, sah sich noch einmal sichernd auf der menschenleeren Straße um und kletterte die Wand des Hauses mit der Leichtigkeit einer Spinne hoch. Oben beim Dachfenster angekommen, zog er seinen Dolch, dessen Knauf mit scharfen Diamantsplittern besetzt war, und schnitt damit ein rundes Stück Glas aus der Scheibe. Mit einer lautlosen Bewegung schwang er sich ins Innere des Hauses.
Mit unhörbaren Schritten durchquerte Shannon den Dachboden und blieb vor der nächsten Wand stehen. Mit seinen Fingern tastete er sanft über das Mauerwerk und suchte die geheime Tür, die weiter ins Innere des Labyrinths führte. Die winzige Erhebung im Verputz, die den Mechanismus verbarg, war mit bloßen Augen nicht zu erkennen, doch Shannon entdeckte sie sofort. Er klopfte mit dem Dolch den Mörtel ab und betätigte den Riegel.
Die Geheimtür schwang mit einem Seufzer auf und gab Shannon den Weg in eine von Säulen getragene Halle frei. Er schlich an der Wand entlang und verbarg sich hinter einem ledernen Vorhang, als er menschliche Stimmen hörte. Nicht weit vor ihm saß ein junges, weißgekleidetes Mädchen auf einem reich verzierten Dreifuß aus Silber über einer Spalte im Boden, aus der heißer, scharf riechender Dampf herausquoll.
Neben ihr stand ein alter Mann mit gelocktem Haar, das von einem blauen Band gehalten wurde. Er trug eine blaue Toga über einem weißen Hemd und hielt in der Hand einen langen Stab, dessen Knauf aus einem silbernen Halbmond bestand. Der Alte sprach hastig auf das Mädchen ein. Zunächst verstand Shannon kein Wort. Als er dann aber die Augen schloss und sich in einen leichten Trancezustand versenkte, verwandelte die fremde Sprache sich für ihn in heimatlich klingende Laute.
»… und so fragen wir dich, o Apollo, du Fernhintreffender. Wird Athen sich der Tyrannei der Perser beugen müssen, oder wird es in Freiheit weiterbestehen?«
Das Mädchen beugte sich noch tiefer über die Spalte und sog den heißen Dampf hörbar in ihre Lungen. Als sie antwortete, rollte sie irr mit den Augen, und ihre Stimme hörte sich wie die Stimme eines Mannes an.
»Harre aus, o Athen, hinter der hölzernen Mauer, und du wirst den Sieg erringen!«
Shannon zuckte zusammen. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Instinktiv fühlte er, dass hier
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