Hexer-Edition 08: Engel des Bösen
aufklaffenden Abgründen – und urplötzlich standen wir in einer weiteren, domartig gewölbten Höhle.
Der Anblick ließ mich mitten im Schritt innehalten.
Alles, was ich bisher über dieses unterirdische Labyrinth gedacht und geglaubt hatte, war falsch. Die Höhle, in der wir standen, hatte die Ausmaße einer gotischen Kathedrale – und sie war künstlich.
Zumindest war das mein erster Eindruck. Dann sah ich, dass die Höhle wohl natürlichen Ursprungs war, nichts weiter als eine gewaltige Luftblase, die sich im halb flüssigen Stein gebildet hatte, als dieser Kontinent entstand. Aber sie war nachträglich – mit einer Technik und einem Aufwand, den ich mir nicht einmal vorzustellen wagte – bearbeitet und erweitert worden. Die spitze Decke wölbte sich gute hundert Yards über unseren Köpfen und musste bis nahe an die Erdoberfläche heranreichen. Die Wände waren über und über bedeckt mit barbarischen, nichtsdestotrotz aber kunstvollen Reliefarbeiten, die auf geheimnisvolle Weise zu leben schienen. Zahllose, perfekt gerundete Eingänge führten aus allen Richtungen zugleich in die Höhle hinein.
Und genau in ihrer Mitte, die nadelscharfe Spitze auf den Punkt ausgerichtet, in dem die Wölbung der Decke auslief, stand der Obelisk.
Er war schwarz wie die Nacht und aus einem Material gearbeitet, das weder Metall noch Stein zu sein schien und eine Art … schwarzes Licht ausstrahlte.
»Was ist das hier?«, fragte ich. Die bizarre Akustik der Höhle fing den Klang meiner Worte auf und warf ihn als tausendfach verzerrtes Echo zurück. Es klang wie boshaftes Hohngelächter in meinen Ohren.
»Ein Ort, an den nie wieder zurückzukehren ich mir geschworen habe«, sagte Shadow. Auch ihre Stimme zitterte und fast glaubte ich, einen Ausdruck von Furcht auf ihren Zügen zu erkennen. Sie war neben mir stehen geblieben, unmittelbar hinter dem Ausgang und so dicht bei der Wand, dass ihre Schwingen den rauen Fels streiften. Fast, als versuchte sie, einen möglichst großen Abstand zwischen sich und den Obelisken zu bringen.
Noch einmal sah ich zu dem schwarzen Monument hinüber. Es war nicht nur dieses sonderbare, helligkeitsvernichtende Licht, was ihn so unheimlich aussehen ließ. Das Gebilde strahlte Hass und Bosheit aus wie einen düsteren Atem. Es war Materie gewordener Hass.
Und plötzlich glaubte ich zu wissen, wo wir waren. Wenn ich die zahllosen Um- und Irrwege, zu denen uns das Höhlensystem gezwungen hatte, in Abzug brachte, mussten wir uns eine knappe Meile von St. Aimes entfernt haben. Ich war sicher, dass über der Höhle, dort, wohin die Spitze des Obelisken wie ein ausgestreckter Zeigefinger wies, das Hünengrab lag.
»Das Tor?«, flüsterte ich.
Shadow atmete hörbar ein, wandte den Kopf und sah mich ernst an. Dann nickte sie. »Wir sind genau darunter«, sagte sie. »Es ist der einzige Weg.«
»Du kannst es öffnen?«
Shadow nickte, schüttelte gleich darauf den Kopf und griff mit einer fahrigen Geste in ihr gelocktes Silberhaar. Irgendetwas blitzte rot darunter, dann war es verschwunden. »Nein«, sagte sie. »Ich … könnte es. Aber ich kann mich dem Obelisken nicht nähern. Ich bin jetzt schon viel zu dicht bei ihm. Du musst es tun.«
»Ich?« Vor Schrecken ließ ich beinahe Lady Audley fallen. Allein der Gedanke, mich dieser schwarzen, Stein gewordenen Scheußlichkeit nähern zu sollen, bereitete mir Übelkeit. »Das kann ich nicht.«
»Ich zeige dir den Weg«, sagte Shadow. »Ich werde dir helfen. Du musst nur tun, was ich dir sage. Mehr nicht. Aber du musst dich beeilen. Es ist gefährlich.«
Der letzte Satz – fand ich – war ausgesprochen überflüssig.
Behutsam legte ich Lady Audley zu Boden, richtete mich wieder auf und rückte den Stockdegen unter meinem Gürtel zurecht. Der Obelisk schien finsterer geworden zu sein. Mein Herz begann schneller zu schlagen. Ich spürte, wie meine Handflächen feucht wurden.
»Das TIER hat das Tor verschlossen und mit einem magischen Schutz versehen«, erklärte Shadow, »nachdem es diesen Weg benutzt hatte, um zu fliehen. Jeder, der jetzt versuchen würde, es zu benutzen, würde sterben. Aber es gibt einen Weg, es wieder zu öffnen.«
»Was muss ich tun?«, fragte ich.
Shadow deutete mit einer Kopfbewegung zur Spitze des steinernen Giganten. »Nur dort hinaufsteigen und den Steuerkristall berühren«, sagte sie.
»Nur dort hinaufklettern«, wiederholte ich sarkastisch. »Wenn es nicht mehr ist …« Dann begriff ich erst, was sie gesagt
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