Hexer-Edition 15: Der Koloss von New York
keinen Unterschlupf, da reicht uns ein weiches Lager im Freien. Außerdem«, er scheuchte das Ungeziefer beiseite, das sich aus dem Unterholz auf seine nackten Arme und sein Gesicht stürzte, »gibt es hier zu viele Mücken.«
Hund blickte ihn mit schiefem Kopf an und jaulte leise. Der Alte merkte auf. Das tat sein Begleiter nur, wenn er Beute gewittert hatte. Er beugte sich, neugierig geworden, vor und versuchte das Dunkel der Höhle mit Blicken zu durchdringen. Vielleicht, wenn sie Glück hatten, konnten sie das Brot und den Wein mit einem saftigen Kaninchenbraten aufrunden.
Als er weitersprach, hatte sich seine Stimme auf ein leises Flüstern gesenkt. »Wie immer, Freund. Du bleibst hier und passt auf. Ich gehe rein und scheuche das Vieh heraus.« Er tätschelte den Kopf seines Hundes. »Ich hoffe, du bist in Form heute, Kleiner.«
Damit wandte er sich wieder dem dunklen Loch zu, legte Mantel und Bündel sorgfältig zu Boden und schlich näher an den Höhleneingang heran. Er war größer, als es auf den ersten Blick ausgesehen hatte; der Alte brauchte sich kaum zu bücken, als er in die nachtschwarze Dunkelheit eindrang. Er ging ein paar Schritte und blieb verblüfft wieder stehen. Die Decke der Höhle wurde nicht niedriger, wie er vermutet hatte, im Gegenteil. Er konnte sie mit ausgestrecktem Arm kaum noch erreichen!
Jetzt kramte er doch den Kerzenstummel, den er für solcherlei Gelegenheiten stets bei sich trug, aus der Tasche, hantierte einen Moment lang ungeschickt mit seinen Zündhölzern herum und entflammte schließlich den Docht.
»Heiliger Strohsack, Schutzpatron der Vagabunden!«, entfuhr es ihm. »Das hatte ich nun wirklich nicht erwartet!«
Im flackernden Schein der Kerze eröffnete sich ihm eine gewaltige Höhle, so groß, dass das Licht nicht einmal mehr die gegenüberliegende Wand erreichte. Auch die Decke war nur als unwirklicher Schatten zu erkennen. Aus der Dunkelheit kam ein helles Plätschern; sogar fließend Wasser gab es hier!
Der Alte kratzte sich den Bart. Das war ein idealer Unterschlupf bei Regentagen! Schade nur, dass er eigentlich nicht vorhatte, länger in London zu bleiben. Morgen schon wollte er weiterziehen. Auf jeden Fall würde er die Stelle markieren, falls es ihn noch einmal, vielleicht im Winter, hierher verschlug.
Nach Minuten andächtigen Schweigens erst fiel ihm wieder ein, warum er eigentlich hergekommen war. Irgendwo dort in der Dunkelheit wartete ein saftiger Braten auf ihn und Hund. Er ging ein paar Schritte weiter in die Höhle hinein und streckte die Kerze hoch über seinen Kopf.
»Heda, mein kleines Abendessen!«, rief er laut, um das Tier aufzuschrecken. Seine Stimme brach sich in den Tiefen der Höhle und kam als verzerrtes Echo zurück. Himmel, wie groß war sie denn noch? Von außen hatte der Erdwall gar nicht so riesig ausgesehen.
Neugierig geworden, drang er tiefer in die Finsternis vor. Dann spürte er, dass der Boden abfiel, erst unmerklich, dann immer stärker. Das also war das Geheimnis: Die Höhle setzte sich unterirdisch fort.
Gleichzeitig mit dieser Erkenntnis wurde ihm klar, dass es keinen Sinn hatte, das Kaninchen – falls es überhaupt eines war und nicht nur eine Ratte – zum Ausgang zu treiben. Eher würde es wohl den Weg in die Höhle hinein wählen und er hatte weiß Gott keine Lust, dem Tier hinterherzujagen.
Der Alte wandte sich um – und erschrak. Er hatte erwartet, den hellen Fleck des Einstiegs vor sich zu sehen, doch da war nur Dunkelheit. Ohne dass es ihm recht bewusst geworden war, schien er tiefer in die Höhle eingedrungen zu sein, als er beabsichtigt hatte.
Für einen Moment überkam ihn eine dumpfe, ungewisse Furcht, dann schüttelte er energisch den Kopf. »Unsinn!«, sagte er zu sich selbst. »Natürlich finde ich wieder heraus. Ist doch ganz einfach, bin ja um keine Ecken gebogen. Einfach geradeaus und schon bin ich draußen …«
Irgendwo vor ihm löste sich ein Stein aus der Wand und polterte zu Boden. Ein leises, schabendes Geräusch erklang.
Der Alte schluckte schwer. Ein dicker Kloß bildete sich in seinem Hals und ein rascher Schauer strich ihm wie mit Eisfingern den Rücken herab.
»Ist da wer?« Seine Stimme klang plötzlich gepresst und ängstlich. Wie zur Antwort schlug ein zweiter Stein zu Boden. Das Geräusch hallte aus der Tiefe der Höhle wider. Und irgendwo in der Dunkelheit glommen zwei kleine, gelbe Lichter auf.
Der Alte wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und atmete schwer
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