Hexer-Edition 15: Der Koloss von New York
»Oder träumste mit offenen Augen?«
»Ich bin gestolpert, sonst nichts«, antwortete ich gereizt und starrte wütend auf Gurk, der sich auf dem Straßenpflaster vor Lachen kugelte. Rowlf stellte mich wieder auf die Füße und schwang sich auf den Kutschbock.
Howard und ich stiegen ein. Hinter mir hüpfte Gurk in den Wagen, noch bevor ich die Tür schließen konnte. Er nahm auf dem Sitz mir gegenüber Platz und bohrte ausgiebig in seiner dicken Kartoffelnase. Neben ihm paffte Howard seelenruhig seine Zigarre und bemerkte nichts von seiner Anwesenheit, obwohl Gurk einen deutlichen Abdruck im Kissen hinterließ. Aber vielleicht sah ich auch das als Einziger.
Draußen ging langsam die Sonne unter. Noch hatte sie den Horizont nicht erreicht und tauchte die vornehmen Häuser des Ashton Place, an denen wir vorbeifuhren, in goldenes Licht.
Es war ein wundervoller Abend. Ein Abend, um mit seinem Mädchen im Park spazieren zu gehen und ihr zärtliche Worte ins Ohr zu flüstern. Ein Abend, um am Ufer der Themse zu sitzen und die Angelschnur auszuwerfen.
Bestimmt kein Abend, um einem Säuremonster entgegenzutreten.
Aber diese Gedanken waren mehr als müßig. Wenn es uns nicht gelang, den Golem zu vernichten, war London verloren, vielleicht schon morgen. Wie viele Tote würden in dieser Nacht aus den Gräbern kommen? Wann war die Armee des Bösen bereit?
Es schien, als hätte Howard meine Gedanken erraten. Er straffte sich und sah mir in die Augen. »Wir schaffen es, Robert«, sagte er eindringlich, doch seinen Worten fehlte die nötige Überzeugungskraft.
Ich nickte schwach. »Wenn Gott will«, fügte ich hinzu.
»Was für eine öde Unterhaltung«, murrte Gurk von seinem Sitz herab. »Lasst den Leichen doch ihre Freude. Ihr hängt alle viel zu sehr an eurem armseligen Leben.« Damit stand er auf und streckte seinen Knollenkörper. Sein Gähnen hätte einem Nilpferd zur Ehre gereicht. »Ich verziehe mich eben mal«, sagte er dann und zwinkerte mir zu. »Ich bin aber rechtzeitig wieder da. Wehe dir, du stolperst bis dahin ohne meine Schuld.« Dann hüpfte er auf den Boden der Kutsche und sickerte durch ihn hindurch. Offenbar pflegte er eine Vorliebe für effektvolle Abgänge.
Ich wandte mich wieder dem Fenster zu. Von Westen trieben schwere Gewitterwolken heran und verdunkelten die Sonne. Von einer Minute auf die andere hatte sich der laue, sonnige Abend in eine düstere Vorahnung von Unheil und Gefahr gewandelt. Es ging gespenstisch schnell, fast, als wolle mich das Schicksal warnen, die Fahrt fortzusetzen …
Ich versuchte die bösen Gedanken aus meinem Kopf zu vertreiben, doch es gelang mir nicht ganz. Irgendwo tief in mir flüsterte eine Stimme, dass meine Magie nicht ausreichen würde, den Golem zu vernichten, dass ich versagen und dafür mit meinem Leben bezahlen würde. Und mit dem Leben von Millionen Unschuldigen.
Auch Howard hatte das nahe Sommergewitter bemerkt. Er öffnete eines der Schiebefenster und warf seinen Zigarrenstummel hinaus.
»Auch das noch«, sagte er und deutete auf die schweren Wolken in der Ferne. »Aber wer weiß – vielleicht schadet Regen dem Golem. Das Magnesium wird er jedenfalls nicht löschen können, wenn die Fackeln erst einmal brennen.«
Ich glaubte ein dumpfes, rollendes Donnern zu hören, weit, sehr weit entfernt. Noch einmal brach die Sonne durch, dann war sie hinter den Wolken verschwunden. Die Dämmerung senkte sich wie ein graues Leichentuch über London.
Wir hatten das Zentrum der Stadt umfahren und durchquerten Paddington. Ich sah, wie überall in den Häusern die Fenster geschlossen und die Stühle und Sonnenschirme von den Balkonen und Verandas geholt wurden. Es würde nicht mehr lange dauern, bis die ersten Tropfen fielen.
Das Verbindungsfenster zum Kutschbock glitt zur Seite und Rowlf schaute herein. Sein Bulldoggengesicht verzog sich zu einer leidenden Grimasse.
»Ich hätt besser meinen Hut mitgenommen!«, rief er durch das Rumpeln der Kutsche, die nun über immer schlechter werdende Straßen holperte. »Das sieht nach ’nem ausgewachsenen Gewitter aus!«
Howard wandte sich zu ihm um. »Wann kommen wir an?«
Rowlfs Gesicht verschwand für einen Moment und wir sahen eine Kutsche auf der Gegenbahn vorbeihuschen. Dann beugte er sich wieder zu uns herab. »Schätze, wir sin gleich da. ’n paar Minuten noch.«
Ich spürte förmlich, wie Howard nervös wurde. Seine Finger spielten unbewusst an den Mantelknöpfen herum, und er sah immer wieder auf die Straße
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