Hexer-Edition 15: Der Koloss von New York
Lydia und schlüpfte in seine groben Leinenhosen. Dann bückte er sich und tastete nach dem Messer, das er stetes im Gürtel trug.
»Warte hier«, raunte er leise, ohne sich nach ihr umzudrehen. »Ich sehe mir die Sache einmal an.«
Lydia klammerte sich an seinem Arm fest und hielt ihn zurück. »Der Mulo«, flüsterte sie ängstlich. Ihre Stimme bebte vor Angst. »Es ist der Mulo!«
Nun wandte sich Petrosch doch zu ihr um. »Der Totengeist?« Seine Stimme klang nicht mehr so sicher wie noch vor wenigen Sekunden. Dann schüttelte er den Kopf und packte das Messer fester. Die blanke Klinge warf zuckende Reflexe auf sein Gesicht und Lydia sah, dass Schweiß auf seiner Stirne stand. »Unsinn. Was sollte der Mulo von uns wollen? Nein, Lydia, es gibt eine andere Erklärung dafür. Eine harmlose«, fügte er schnell hinzu. »Ich muss ihr auf den Grund gehen.«
Er konnte sich gar nicht anders verhalten. Wie alle Zigeuner war auch er von einem tief verwurzelten Stolz erfüllt und dies hier war die Rolle des Beschützers. Er fühlte sich stark genug, es notfalls mit einer ganzen Bande von Strauchdieben aufzunehmen. Er musste es tun.
Er streifte Lydias Hand ab und schlich geduckt auf die seltsam leuchtenden Punkte zu, das Messer halb erhoben und die gebogene Klinge nach oben gerichtet.
Der Gestank wurde stärker. Erst jetzt kam ihm zum Bewusstsein, dass er mit den Lichtern zusammenhängen könnte. Unbewusst verlangsamte er seine Schritte. Das Gefühl von Gefahr wuchs an und ließ sein Herz schneller schlagen. Schließlich, er war nur noch einen Steinwurf von den Lichtern entfernt, blieb Petrosch stehen und duckte sich ins Gras.
Jetzt sah er auch, dass die Kette der Leuchtpunkte viel größer war, als er angenommen hatte; sie erstreckte sich fast über den gesamten Waldrand und kam schnell näher.
Petrosch hielt den Atem an und lauschte. Aus der Dunkelheit drangen seltsame Geräusche an sein Ohr: ein verzerrtes, qualvolles Stöhnen, ein Knirschen wie von dünnen Holzstäben, die aneinander gerieben wurden, ein Geifern und Schmatzen.
Lauf!, schrie ihm sein Instinkt zu. Rette dich und Lydia!
Bleib!, schrie sein Stolz. Finde heraus, was da auf das Lager zukommt. Du bist es der Sippe schuldig!
Unschlüssig blieb er hocken und blickte sich um. In einiger Entfernung hinter sich konnte er Lydias hellen, schlanken Körper ausmachen. Und vor ihm schälten sich nun die ersten Umrisse aus der Dunkelheit.
Es sind Augen!, durchzuckte es den jungen Mann. Die Lichter waren Augen!
Gleichzeitig traf ihn der Schreck wie ein Keulenschlag und ließ ihn zurücktaumeln. Der Mond brach durch die Wolken und bot ihm ein Schauspiel des Grauens. Bleiche Gerippe, nur noch von unheiligen Kräften gehalten, tote Körper, zerfetzte Leichenhemden, die um dürre, von pergamentener Haut umspannte Gelenke wehten …
Panik erstickte seinen Schrei, als Petrosch herumfuhr und wie von Sinnen zu laufen begann. Zweimal stolperte er über Wurzeln und Geröll und wenn er sich hastig wieder aufrappelte, vermeinte er schon den nach Verwesung stinkenden Atem der lebenden Leichen in seinem Nacken zu spüren.
Lydia stand noch so da, wie er sie verlassen hatte: halb nackt, das helle Kleid um ihre Füße. Als sie Petrosch kommen sah, lief sie ihm entgegen – und erstarrte, als sie das Grauen in seinen Augen las.
Er versuchte erst gar nicht, ihr zu erklären, was er gesehen hatte. »Weg!«, keuchte er nur. »Lauf um dein Leben!«
Als sie nicht sofort reagierte, zerrte er sie einfach mit sich. Sie schrie auf, als sich seine Hände brutal um ihre Arme schlossen, doch er achtete nicht darauf. »Zu den Wagen!«, brüllte er mit überschnappender Stimme. »Wir müssen die Sippe warnen, sonst sind wir alle verloren!«
Und hinter ihnen erscholl ein Summen aus Hunderten von toten Kehlen – ein auf- und abschwellender Laut, der ihnen das Blut in der Adern gefrieren ließ. Die Untoten hatten Leben gewittert. Und niemand konnte sie aufhalten.
Unwillkürlich wurde ich an den Vorabend erinnert, als wir das verlassene Viertel erreichten und Rowlf die Kutsche zum Halten brachte. Wieder hatten Howard und ich während der Fahrt nur wenige Worte gewechselt und mehr unseren Gedanken an das Bevorstehende nachgehangen.
Und doch gab es einen Unterschied zum gestrigen Tag. Nicht nur, dass der Himmel nun klar und der Sommerabend warm und freundlich war; auch fühlte ich Hoffnung und Zuversicht in mir. Ich hatte einen Verbündeten, der wie ich die Magie beherrschte, und ich
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