Hexer-Edition 15: Der Koloss von New York
maßen, wenn sie glaubten, er merke es nicht. Noch vor Tagesfrist wäre er überzeugt gewesen, dass es Sorge war, was er in den Augen der Männer las. Jetzt war er sich dessen nicht mehr so sicher. Vielleicht war es schlichtweg Angst. Vielleicht sah man ihm seine Schuld auch deutlich an und er war der einzige Narr, der das bisher noch nicht bemerkt hatte.
Seine Gedanken begannen sich zu verwirren und er spürte, wie die Erschöpfung ihre knochige Hand nun auch nach seinem Geist ausstreckte. Für einen Moment war er versucht, der stummen Verlockung nachzugeben und sich einfach in den Sand sinken zu lassen und zu sterben. Aber solche Gedanken waren lästerlich und er bekämpfte sie mit dem bisschen Energie, das ihm noch geblieben war. Sein Leben gehörte längst nicht mehr ihm. Er hatte es verspielt, schon vor Tagen, und es war ihm nur noch geliehen worden, von den Männern mit den schwarzen Schreckensgesichtern. Balestrano wusste nur nicht, wozu. Und er war nicht sehr sicher, ob er die Antwort überhaupt wissen wollte.
Als sie den Berg erreicht hatten, blieb er stehen. Einen Moment lang machte sich echte Panik in ihm breit, als er den Pfad nicht fand, denn die Nacht schien mit einem Male noch dunkler zu werden und der Koloss aus Lava ragte wie ein Stück geronnener Schwärze vor ihm auf. Aber dann brach sich ein Lichtstrahl auf poliertem schwarzem Stein und als er genauer hinsah, entdeckte er den schmalen Pfad, der in engen Serpentinen den Berg hinauf und zu der kleinen Höhle auf halber Höhe führte.
Und er sah den Schatten.
Es war wie ein noch dunklerer Fleck auf dem Schwarz des Berges, nur für ihn sichtbar, und nur für ihn voller Entsetzen. Für eine endlose Sekunde glaubte er Brandgeruch zu spüren, das Glitzern von Licht auf kleinen bösen Knopfaugen zu sehen.
Sie waren da!
Sie warteten auf ihn, dort oben, einen Schritt vor dem Höhleneingang!
»Bruder?«
Balestrano fuhr wie unter einem Hieb zusammen, wirbelte herum und riss schützend die Arme vor das Gesicht.
Aber es war nur einer seiner Begleiter, der herangekommen war und die Hand erhoben hatte, wie um ihn an der Schulter zu berühren. Balestranos scheinbar sinnlose Reaktion ließ ihn innehalten. Auf seinem Gesicht lieferten sich Sorge und stärker werdende Furcht ein stummes Duell.
Verlegen nahm Balestrano die Hände herunter, umklammerte seinen schmerzenden Arm mit der Hand und versuchte zu lächeln. »Verzeih«, sagte er leise. »Ich … muss wohl in Gedanken gewesen sein. Ich bin müde.«
Der Templer nickte verständnisvoll. »Wir sind alle erschöpft«, sagte er. »Macht dir der Arm zu schaffen?«
Balestrano nickte. Es war das Einfachste, es dabei zu belassen. Es gab Momente, in denen die Lüge der Wahrheit vorzuziehen war. »Ja«, sagte er. »Aber es ist bald überstanden. Was … willst du?«
Der Templer zögerte einen Moment, fast, als müsse er erst überlegen, aus welchem Grund er überhaupt gekommen war. Dann hob er die Hand und deutete nach rechts, um den Berg herum. »Ein Lager«, sagte er. »Bruder Simon hat ein Lager entdeckt, auf der anderen Seite des Berges. Man sieht den Feuerschein ganz deutlich. Und Stimmen.«
Balestrano schwieg sekundenlang. Er wusste, was der Mann von ihm hören wollte – trotz allem, was hinter ihnen lag, mussten die Männer halb wahnsinnig vor Furcht sein, das entsetzliche Tor noch einmal zu betreten, denn es verkörperte alles, was sie in ihrem Leben fürchten und hassen gelernt hatten. Und auf der anderen Seite des Berges waren Menschen. Menschen und Wärme und Schutz.
Aber vielleicht war es ja gerade das, was sie denken sollten.
Balestrano war der Verzweiflung nahe. Er wusste einfach nicht mehr, was richtig war, welche Entscheidung nun den Tod und welche die Rettung brächte; wenn überhaupt. Er war hilflos. Hilflos und allein wie niemals zuvor in seinem Leben. Um wie viele Züge waren ihm seine schrecklichen Gegenspieler voraus? Wie oft musste er das Gegenteil dessen tun, was eigentlich richtig schien, um wirklich das Richtige zu tun? Und was, wenn er einen Schritt zu weit dachte?
Balestrano drehte sich wieder herum, ballte in hilflosem Zorn die Faust und blickte wieder zu dem nur für ihn sichtbaren Schatten vor dem Höhleneingang hinauf.
Komm, flüsterte eine Stimme hinter seiner Stirn. Komm, Bruder. Wir warten auf dich!
Unsichtbar in der Nacht öffneten sich schreckliche Klauenhände. Ein dünner, geschlitzter Mund mit rasiermesserscharfen Knochenleisten anstelle von Zähnen verzog sich zu
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