Hexer-Edition 21: Der Sohn des Hexers I
sich einen Knoten ins Gehirn wand, den er vielleicht nie wieder aufbekommen würde. Wie alle anderen (übrigens wie fast alle anderen wider besseres Wissen) hatte auch er die offizielle Erklärung akzeptiert, dass Lovecraft durch einen Husarenstreich seines seit fünf Jahren untergetauchten Komplizen Rowlf aus dem Gefängnis befreit worden und das Ungeheuer und alles andere nichts als eine geschickte Täuschung gewesen war; zusammen mit einer gehörigen Portion Massenhysterie. Natürlich befriedigte ihn diese Erklärung nicht wirklich, aber vermutlich hätte er sich damit zufrieden geben können – wäre da nicht noch etwas anderes gewesen.
Etwas viel Unheimlicheres.
Es war Craven.
Cohen hatte die Geschichte von dem angeblichen Zwillingsbruder aus Amerika nicht eine Sekunde lang geglaubt. Sicher, seine Papiere waren in Ordnung; sogar ein bisschen zu sehr in Ordnung, für Cohens Geschmack. Er konnte eine lückenlose Biographie vorlegen, von seiner Geburtsurkunde hin bis zur Quittung der Schiffspassage, die ihn angeblich vor guten drei Wochen zum ersten Mal auf die britischen Inseln gebracht hatte. Nichts war daran auszusetzen. Es waren die mit Abstand perfektesten Fälschungen, die Cohen je gesehen hatte. Cohen hatte sie den besten Spezialisten Scotland Yards vorgelegt und sie alle hätten sich selbst zu Halbwaisen gemacht, hätte Cohen sie beim Wort genommen, denn sie hatten beim Leben ihrer Mütter geschworen, dass die Papiere echt seien.
Cohen wusste, dass sie es nicht waren. Weil nämlich der Mann, dem sie gehörten, nicht echt war.
Cohen wusste einfach, dass der junge Mann mit dem asketischen Gesicht und den zwingenden Augen niemand anders als Robert Craven war, nicht sein Zwillingsbruder, nicht irgendein Doppelgänger, sondern der gleiche Robert Craven, dessen Leiche er selbst vor fünfeinhalb Jahren auf dem Pflaster vor dem niedergebrannten Herrenhaus am Ashton Place hatte liegen sehen; und auch später noch einmal, auf dem emaillierten Tisch im Pathologie-Raum der Gerichtsmedizin. Natürlich war das völlig unmöglich – Robert Cravens Körper war fast bis zur Unkenntlichkeit verbrannt gewesen, von den zahllosen anderen inneren und äußeren Verletzungen ganz zu schweigen. Seine Leiche war zwar anschließend unter höchst geheimnisvollen Umständen aus der Friedhofskapelle verschwunden (die bei dieser Gelegenheit gleich in Rauch und Flammen aufgegangen war), aber es gab trotzdem nicht den geringsten Zweifel daran, dass er tot sein musste.
Und trotzdem …
Da waren Gerüchte, die ihm zu Ohren gekommen waren. Sie hatten nicht einmal direkt mit Robert Craven zu tun, aber jetzt, im Nachhinein …
Zum einen die Geschichten, die man sich – hinter vorgehaltener Hand, aber hartnäckig – über Viktor Frankenstein erzählte, diesen unheimlichen Arzt aus Deutschland, der in einem ebenso unheimlichen Haus wohnte und am gleichen Tag, an dem Lovecraft aus dem Gefängnis floh, unter höchst merkwürdigen Umständen verunglückt war. Dann die Andeutungen, die Lovecraft selbst immer wieder gemacht hatte, ohne es selbst zu merken, vermutlich sogar ohne zu ahnen, dass er Cohen so manche Frage gerade dadurch beantwortete, dass er sie nicht beantwortete. Die seltsamen Aktivitäten, die Dr. Gray in den letzten Jahren entwickelt hatte, und seine noch seltsamere Adoptivtochter, jene schwarzäugige Schönheit aus dem Morgenland, die die Männer allein durch ihren Anblick aus der Fassung brachte und in deren Nähe sich doch kein Mann wirklich wohl fühlte … und schließlich das, was er in der Höhle unter Cravens Haus erlebt hatte.
An diesem Punkt weigerten sich seine Erinnerungen fast, ihm zu gehorchen. Er hatte das schwarze Ungeheuer gesehen, das gleiche grässliche Ding, das auch das Gefängnis überfallen und sieben seiner besten Männer verschlungen hatte, aber er weigerte sich selbst jetzt noch es zuzugeben. Es gab Dinge, die nicht sein konnten, weil sie einfach nicht sein durften, basta.
Nachdem er sich eine ganze Weile unruhig in seinem Bett hin- und hergewälzt hatte, setzte er sich auf, schwang die Beine auf den Boden und starrte unschlüssig ins Leere. Er spürte, dass er so schnell keinen Schlaf mehr finden würde.
Er schien nicht der Einzige zu sein, der in dieser Nacht wach lag. Durch die morsche Trennwand zu Cravens Zimmer drangen Geräusche, die ihm verrieten, dass auch er sich unruhig in seinem Bett hin- und herbewegte. Einen Moment lang spielte Cohen ernsthaft mit dem Gedanken, zu ihm zu gehen und
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