Hexer-Edition 21: Der Sohn des Hexers I
setzte zu einer ärgerlichen Antwort an, doch ich kam nicht dazu, denn Cohen trat mir unter dem Tisch so heftig gegen das Schienbein, dass mir die Tränen in die Augen schossen. Ich widerstand dem Impuls, zurückzutreten; zum einen aus verständlichen Gründen, zum anderen aber, weil ich ernsthaft befürchtete, versehentlich das Tischbein treffen zu können, was nur mit dem völligen Zusammenbruch des altersschwachen Möbelstückes enden konnte.
»Sie engagieren sich sehr für diese Stadt und ihre Bewohner«, sagte Cohen.
»Soweit es in meinen Kräften steht«, bestätigte Hennessey. »Leider reichen sie nicht aus, um wirklich zu helfen.«
»Warum tun Sie das?«, fragte ich.
Hennessey blinzelte. »Wie?«
»Ich nehme Ihnen den Heiligen nicht ab«, sagte ich geradeheraus. »Und den selbstlosen Samariter auch nicht. Warum also tun Sie all das? Sie kümmern sich um die Kinder, Sie helfen ihren Eltern, ja, Sie bezahlen sogar ihre Rechnungen … und ich frage mich, warum.«
Cohen spießte mich mit Blicken regelrecht auf, aber ich beachtete ihn gar nicht, sondern starrte weiter Hennessey an – und plötzlich senkte er den Blick und ein halb nachdenklicher, halb betroffener Ausdruck machte sich auf seinen Zügen breit.
»Vielleicht, weil ich es ihnen schuldig bin, Mr. Craven«, sagte er. »Nennen Sie es mein schlechtes Gewissen, wenn Sie wollen, oder die Begleichung einer Schuld.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte Cohen.
»Das können Sie auch nicht«, antwortete Hennessey. Er atmete hörbar ein und starrte mit leerem Blick einige Sekunden in seine Tasse, ehe er wieder von seinem Tee nippte und – diesmal sehr leise – fortfuhr: »Sehen Sie, es gab früher ganz in der Nähe eine Sägemühle. Sie gehörte einem entfernten Onkel von mir und war praktisch der einzige Arbeitgeber für die Menschen in Brandersgate. Als dieser Onkel starb, erbte ich als einziger lebender Verwandter die Fabrik. Ich war sehr jung damals, und sehr naiv. Meine Anwälte und all meine Freunde rieten mir das Werk zu verkaufen, und hätte ich es getan, dann würde es vielleicht heute noch arbeiten. Aber ich war viel zu borniert, um auf irgendjemanden zu hören. Ich übernahm die Leitung des Werkes selbst – nicht einmal von hier aus, sondern von Glasgow, wo ich damals lebte, ohne die Fabrik oder einen dieser Menschen hier auch nur zu Gesicht bekommen zu haben.« Er trank einen Schluck Tee und seine Stimme wurde noch leiser. »Ich nehme an, Sie können sich denken, wie es ausging.«
»Sie machten Bankrott?«, vermutete Cohen.
»In nicht einmal zwei Jahren«, bestätigte Hennessey. »Damals begriff ich gar nicht, was ich angerichtet hatte. Die Fabrik musste schließen, aber mir blieb noch immer genug Geld für ein sorgenfreies Leben. Erst einige Jahre später kam ich durch einen Zufall hierher und sah, was ich getan hatte.«
»Es war ein schwerer Schlag für die Stadt«, sagte Cohen.
»Ein schwerer Schlag?« Hennessey schrie fast. »Es war ihr Untergang, Mr. Cohen! Fast alle Männer waren ohne Arbeit; Not und Gewalttätigkeit waren an der Tagesordnung. Wer irgendwie konnte, war weggezogen, aber nicht alle konnten es. Und die, die blieben …« Er führte den Satz nicht zu Ende, sondern schüttelte traurig den Kopf. »Nun, ich versuchte die schlimmste Not zu lindern. Hätten es meine Möglichkeiten erlaubt, hätte ich das Sägewerk wieder eröffnet, doch auch meine Mittel sind begrenzt. Also tat ich das Einzige, was ich tun konnte. Ich verkaufte das große Haus in Glasgow und kam hierher um zu helfen, soweit es in meinen Kräften steht.«
Ich glaubte ihm kein Wort. Die Geschichte hätte aus einem jener Kitschromane stammen können, die man für ein paar Penny an jedem Zeitungskiosk erstehen konnte; und selbst dann wäre sie noch reichlich dünn gewesen. Der reiche Erbe, der ein Leben in Luxus und Sicherheit aufgibt, um sich für die aufzuopfern, die er unwissentlich ins Unglück gestürzt hatte – wem um alles in der Welt wollte er diese Räuberpistole verkaufen?
»Und was sagen die Behörden dazu?«, erkundigte ich mich.
»Wozu, Mr. Craven?« Hennessey legte den Kopf auf die Seite und sah mich forschend an. Aber ich hatte den sicheren Eindruck, dass er sehr viel weniger über den Sinn meiner Frage nachdachte – der ihm wohl klar war – als mehr darüber, ob er nun einen drohenden Unterton in meiner Stimme gehört hatte oder nicht.
»Zu dem, was hier geschieht«, sagte ich. »Wir leben nicht mehr im Mittelalter, Mr. Hennessey, und
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