Hexer-Edition 21: Der Sohn des Hexers I
war. Und er wusste auch, dass es kein Zufall war, dass gerade er dazu verdammt war, die schrecklichen Ereignisse jener verhängnisvollen Nacht vom siebzehnten zum achtzehnten Februar 1887 – Roberts Hochzeitsnacht – wieder und immer wieder zu durchleben.
Vielleicht war es nichts anderes als die gerechte Strafe für sein Versagen.
Anfangs hatte er beim Aufwachen geschrien, so lange, bis die Wärter herbeigeeilt kamen und ihn auf wenig sanfte Art zum Schweigen brachten, nachdem sie merkten, dass ihm nichts fehlte, sondern er sie nur wegen eines Traumes aus ihrer Ruhe aufgeschreckt hatte.
Mittlerweile schrie Howard nicht mehr, was nicht daran lag, dass der Traum durch die regelmäßige Wiederholung weniger schrecklich für ihn geworden wäre oder er sich daran gewöhnt hätte. Das war unmöglich.
Nein, das Grauen, der Schmerz, das Entsetzen waren jedes Mal unverändert schlimm. Verflogen war lediglich die schreckliche Orientierungslosigkeit beim Aufwachen – das Gefühl lähmender Hilflosigkeit, weil es keine Möglichkeit mehr gab, irgendetwas an dem zu ändern, was so bereits geschehen war, das verwirrende Bemühen, wieder zu seiner eigenen Identität zurückzufinden, und schließlich die Verzweiflung, wenn ihm die Hoffnungslosigkeit seiner Situation wieder zu Bewusstsein kam.
Diesen Schrecken unmittelbar nach dem Erwachen unter Kontrolle zu bringen und zu beherrschen, hatte Howard inzwischen gelernt, was jedoch nichts daran änderte, dass er immer noch schweißgebadet und am ganzen Körper zitternd aus dem Schlaf auffuhr – Nacht für Nacht, jedesmal zur gleichen Sekunde.
Man hatte ihm seine Uhr bei der Einlieferung vor fünfeinhalb Jahren ebenso wie sämtliche übrigen Sachen abgenommen, aber Howard brauchte sie nicht, um zu wissen, dass es wenige Sekunden nach Mitternacht war. Der zwölfte Glockenschlag der nahe gelegenen Kirche war gerade erst verklungen, nachdem er den fünften Septembertag dieses Jahres eingeläutet hatte. Der fünfte September …
Vermutlich wäre er auch ohne den Traum in dieser Nacht schweißgebadet hochgefahren. Es war nicht irgendein Tag.
Heute war sein Todestag.
Howard schlug die dünne Decke zurück und schwang die Beine von der Gefängnispritsche. Er wusste, dass er keinen Schlaf mehr finden würde. Er wunderte sich, dass er überhaupt hatte einschlafen können. Vielleicht war es ein grausamer Streich des Schicksals, ihn selbst heute noch ein letztes Mal mit dem Traum zu peinigen.
In gewisser Hinsicht war Howard fast froh, dass die Qual nun vorbei war. Er hatte mehr als fünfeinhalb Jahre Zeit gehabt, sich auf diesen Tag vorzubereiten, fünfeinhalb Jahre zwischen Verzweiflung und immer wieder neu aufflackernder Hoffnung. Aber es hatte keine Rettung, sondern jedesmal nur einen weiteren Zeitaufschub gegeben. Das Unausweichliche war unvermeidbar; die Mühlen der britischen Justiz mochten langsam mahlen, aber dafür taten sie es mit gnadenloser Präzision.
Er dachte oft an den Prozess zurück. Er war kurz gewesen und das Urteil hatte vermutlich schon festgestanden, bevor der Richter das erste Mal den Saal betrat. Zumindest waren sie gnädig genug gewesen, ihn unter Ausschluss der Öffentlichkeit abzuhalten.
Howard stand auf und ging einige Schritte auf und ab. Die Zelle war winzig: vier Schritte lang und zweieinhalb breit, von denen einer die unbequeme Pritsche beanspruchte, die an der linken Seite an Boden und Wand angeschraubt war. Es gab einen Stuhl, einen kleinen Tisch, ein offenes Klosett ohne Deckel und ein Waschbecken mit einem einzelnen Hahn, der beim Auf- und Zudrehen erbärmlich quietschte. Ein einzelnes Fenster befand sich hoch unter der Decke, doch bot es höchstens einer ausgehungerten Mücke Platz und war zudem noch vergittert. Außerdem lag es so hoch, dass er es nicht einmal erreichen konnte, wenn er auf den Stuhl stieg.
Jedes Detail dieser Zelle war Howard so vertraut geworden, dass er es sogar als Abwechslung empfand, wenn sich gelegentlich eine Fliege oder ein anderes Insekt in seine Zelle verirrte.
Mehr als fünf Jahre in einem Loch wie diesem eingesperrt zu sein, konnte einen geistig schwächeren Menschen leicht um den Verstand bringen, und selbst wer nicht dem Wahnsinn verfiel, der stumpfte innerlich ab. Nicht einmal er war völlig verschont geblieben. Howard hatte miterlebt, wie sein Denken nach und nach auf den Raum zwischen diesen vier Wänden geschrumpft war. Die Zelle war nicht nur zu seiner ganz privaten Hölle geworden, sondern auch zu seiner
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