Hexer-Edition 21: Der Sohn des Hexers I
gesamten Welt. Er wusste, dass es außerhalb der Gitter noch eine Welt gab – die wortkargen Wärter, die drei Mal am Tag nach ihm sahen und ihm das Essen brachten, seine Erinnerungen und der Traum gemahnten ihn immer wieder nachdrücklich daran –, aber er konnte sie sich immer weniger vorstellen. Der bloße Gedanke an ihre ungeheuerliche Weite erschreckte ihn beinahe und er bezweifelte, dass er sich noch wie früher darin zurechtfinden könnte, selbst wenn er durch irgendein Wunder doch noch freikäme, statt dem Henker vorgeführt zu werden. Howard empfand es mittlerweile fast als Erlösung, dass das Warten nach so endlos langer Zeit in ein paar Stunden vorbei sein würde. Der Gedanke an den Tod schreckte ihn nicht. Er war so genügsam geworden, dass er es sogar als eine Gnade empfand, während der letzten Minuten seines Lebens auf dem Weg zum Galgen im Gefängnishof noch einmal den Himmel sehen und frische Luft atmen zu dürfen.
Es war eine grausame Ironie: Er hatte einen grauenvollen Fehler begangen, damals, in einem anderen Leben, wie es ihm schien, als er Andara-House noch einmal betreten hatte; einen Fehler, der das ungeheuerliche Opfer eines Jahrmillionen alten Wesens umsonst hatte werden lassen. Er hatte seine Kräfte missbraucht, sich gegen das Schicksal zu stellen und die Mauern der Wirklichkeit einzureißen, und wenn es eine angemessene Strafe für sein Versagen gab, konnte dies nur der Tod sein. Damals hatte er sich sogar gewünscht zu sterben, weil er geglaubt hatte, nicht länger mit seiner Schuld leben zu können. Dabei hätte er nicht sterben müssen. Er hätte nicht einmal hier bleiben müssen, hätte er es wirklich gewollt.
Kein Gefängnis der Welt konnte ihn gegen seinen Willen halten, nicht ihn, den ehemaligen Time-Master des Templerordens.
Howard wusste, dass er jederzeit fliehen konnte, selbst jetzt noch, und die Verlockung, es zu tun, war während der vergangenen Jahre mehr als einmal fast übermächtig geworden. Dennoch war er froh, es nicht getan zu haben, und er hoffte, dass er die Kraft finden würde, es auch am kommenden Morgen nicht zu tun.
Der Preis war zu hoch.
Howard war zwar in der Lage sein Leben zu retten, aber er würde für diese Rettung mit dem Leben eines anderen bezahlen: dem Leben Robert Cravens. Seines Freundes, den er geliebt hatte wie einen Sohn, und der – Nein. Genug. Nicht mehr. Es mochte egoistisch sein, aber heute und jetzt wollte er nicht an Robert denken. Er hatte getan, was er konnte, und den Rest musste er Gott überlassen, oder wer immer auch das Schicksal der Menschen bestimmte.
So stand er da, reglos, wie erstarrt, Stunde um Stunde, bis er schließlich das Geräusch der Zellentür hinter sich hörte und spürte, dass er nicht mehr allein war. Es war Morgen geworden. Er hatte nicht einmal gemerkt, wie die Stunden verstrichen. Gut.
Die Wächter hatten das Frühstück gebracht, ein opulentes Mahl auf silbernem Geschirr, das ebenso köstlich duftete, wie es vermutlich schmeckte. Seine Henkersmahlzeit. Aber er hatte keinen Hunger. Plötzlich verspürte er eine absurde Art von Ungeduld. Er wollte es hinter sich bringen.
Die Männer verzichteten darauf, ihm Handfesseln anzulegen, als sie ihn aus der Zelle und in das Büro des Gefängnisdirektors brachten.
Er wurde bereits erwartet. Howard blieb einen Moment unter der Tür stehen und musterte der Reihe nach die Personen, die außer ihm selbst im Büro von Gefängnisdirektor Langston anwesend waren: Dr. Dr. Dr. Mortimer Gray, sein Anwalt, Inspektor Wilbur Cohen von Scotland Yard und schließlich Richard Langston selbst. Die beiden Wärter hatten das Büro auf einen Wink Langstons hin wieder verlassen, doch er zweifelte nicht daran, dass sie unmittelbar vor der Tür Position bezogen hatten, um jeden etwaigen Fluchtversuch zu vereiteln. Als ob er das wirklich vorhätte. Begriffen sie denn nicht, dass er froh war, dass es endlich vorbei sein würde?
»Es ist üblich, dass man einem zum Tode Verurteilten einen letzten Wunsch erfüllt«, sagte er, ohne sich mit einer Begrüßung aufzuhalten. »Ich glaube kaum, dass wir deshalb hier zusammengekommen sind, aber vielleicht dürfte ich dennoch einen solchen Wunsch äußern.«
»Sicher – wenn es in meiner Macht steht, ihn zu erfüllen, werde ich es tun«, erwiderte Langston. Er war ein älterer, bürokratisch wirkender Mann, der in all den Jahren, die er das Gefängnis schon leitete, selbst zu einem Teil des grauen Mauerwerks geworden zu sein schien. Sein Anzug
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