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Hexer-Edition 22: Der Sohn des Hexers II

Hexer-Edition 22: Der Sohn des Hexers II

Titel: Hexer-Edition 22: Der Sohn des Hexers II Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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noch auf mich zu achten.
    Der Wagen wurde – nicht zum ersten Mal – langsamer und der Fahrer drehte sich auf dem Kutschbock herum, um durch das kleine Fenster über meinem Kopf zu uns hereinzublicken. Joshua sah ihn einen Moment unsicher an, warf selbst einen Blick aus dem Fenster an der Seite und deutete dann nach links. Der Kutscher zuckte mit den Achseln und ich sah, wie ein unwilliger Ausdruck über seine Züge huschte. Trotzdem ließ er gehorsam die Zügel knallen und der Wagen setzte sich wieder in Bewegung und bog in der angegebenen Richtung ab.
    Ich sah Joshua an, enthielt mich aber vorsichtshalber jedes Kommentars. Ich wurde den Eindruck nicht los, dass wir uns im Kreis bewegten. Es hatte eine ganze Weile gedauert, bis ich begriff, auf welche Weise die Tauben Pasons den Weg wiesen. Sie flogen keineswegs einfach vor uns her. Vielmehr schien es so zu sein, dass der Junge durch die Augen der Tiere sah, ganz wie ich es in meinem vermeintlichen Traum in der vergangenen Nacht getan hatte. Was die ganze Angelegenheit entschieden verkomplizierte, denn zum einen kannte sich Joshua Pasons überhaupt nicht in London aus, sodass es keine bekannten Gebäude, Straßen oder Örtlichkeiten gegeben hätte, an denen er sich orientieren konnte, zum anderen wäre es selbst für einen Ortskundigen sicher nicht leicht gewesen, das Straßenlabyrinth von London aus der Vogelperspektive zu sehen und seinen Weg zu finden. Doch ich tat wohlweislich so, als ahne ich nichts von all diesen Schwierigkeiten, und beschränkte mich darauf, entspannt zurückgelehnt auf meinem Sitz zu hocken und so zu tun, als wäre ich viel zu schwach um zu reden. Großes schauspielerisches Talent verlangte dies nicht von mir, denn ich fühlte mich in der Tat bereits wieder schwach und müde. Die gestohlene Lebenskraft, mit der mich Joshua versorgt hatte, hielt nicht sehr lange an. Es war das Leben von weit über hundert Tieren gewesen, das ich in gerade zwei oder drei Stunden so gut wie aufgebraucht hatte, und allmählich begann ich zu verstehen, wieso sich Crowley nicht einfach darauf beschränkt hatte, sich an Tieren gütlich zu tun, sondern das Leben von Menschen aussaugte.
    »Es kann jetzt nicht mehr sehr weit sein«, sagte Joshua. Auch das hatte er in den letzten beiden Stunden mehr als einmal gesagt, doch ich tat ihm den Gefallen mich meinerseits zum Fenster zu wenden und hinauszusehen.
    Im ersten Moment bemerkte ich es nicht einmal. Der Regen und das graue Licht veränderten die Konturen der Welt dort draußen und ich war, beinahe ohne es zu spüren, schon wieder halbwegs in jenen tranceähnlichen Zustand versunken, in den ich in den letzten beiden Tagen immer wieder gefallen war, wenn ich mich nicht mit aller Kraft darauf konzentriert hatte wach zu bleiben. Doch dann erkannte ich ein Gebäude auf der linken Seite der Straße, Augenblicke später ein zweites – und plötzlich wurde mir klar, in welchem Teil der Stadt wir uns aufhielten. Und im selben Moment wusste ich auch, wo unser Ziel lag.
    Meine Gefühle müssen sich wohl deutlich auf meinem Gesicht gespiegelt haben, denn Joshua richtete sich plötzlich stocksteif auf und sah mich an. »Was habt Ihr?«, fragte er. Seine Stimme klang erschrocken und besorgt.
    Ich antwortete nicht, sondern beugte mich aufgeregt vor und fuhr mit dem Handrücken über das beschlagene Glas der Scheibe, um besser sehen zu können. Mein Verdacht wurde zur Gewissheit. Ich kannte die Straße, durch die der Wagen rollte. Schließlich hatte ich jahrelang hier gelebt. Hinter der nächsten Kreuzung lag der Ashton Place. Der große Platz, an dessen Südseite Andara-House stand. Oder gestanden hatte. Der Mann, der meinen Körper gestohlen hatte, befand sich im Haus meines Vaters.
    Joshua wiederholte seine Frage. Seine Stimme klang nervöser und fast ängstlich. Ich antwortete auch diesmal nicht und der Respekt vor den Fähigkeiten seines vermeintlichen Meisters war gottlob groß genug, Joshua mein Schweigen zumindest für den Moment akzeptieren zu lassen. Auch wenn ich seine Enttäuschung deutlich auf seinem Gesicht erkennen konnte.
    Ich schenkte ihm die Andeutung eines Lächelns, dann wandte ich mich zu dem Kutscher um und versuchte mit einer Handbewegung seine Aufmerksamkeit zu erhaschen. Der Mann sah stirnrunzelnd zu mir herab. Der Blick seiner Augen wirkte ein bisschen trüb, was meinen Verdacht untermauerte, dass Joshua seinen Willen ebenso gebrochen hatte wie den seiner gefiederten Diener. »Halten Sie an«, sagte ich.

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