Hexer-Edition 22: Der Sohn des Hexers II
»Wir werden hier aussteigen.«
»Aussteigen?«, wunderte sich Joshua. »Aber wieso -«
Ich unterbrach ihn mit einer befehlenden Geste, stieß die Tür des Fuhrwerkes auf, noch ehe es völlig zum Stehen gekommen war, und sprang mit einer entschlossenen Bewegung ins Freie. Ich bereute sie, noch ehe ich sie ganz zu Ende gebracht hatte, denn ich hatte – wieder einmal – vergessen, dass ich nicht mehr den Körper eines durchtrainierten Dreißigjährigen besaß. Es glich einem Wunder, dass ich nicht stürzte, sondern mich im letzten Moment an den Aufbauten des Wagens festhalten konnte.
Hinter mir kletterte Joshua ins Freie und der Wagen fuhr weiter, ehe er auch nur die Tür geschlossen hatte. Joshua maß mich mit sonderbaren Blicken, die mir alles andere als angenehm waren. Für einen Moment glaubte ich tatsächlich so etwas wie Misstrauen in seinen Augen zu erkennen. Ich gemahnte mich in Gedanken zu größerer Vorsicht und drehte mich rasch herum und ging Richtung Ashton Place weiter, ehe Joshua Gelegenheit fand, irgendeine Frage zu stellen und seinem Misstrauen damit vielleicht selbst neue Nahrung zu geben.
Trotz meiner Schwäche legte ich dabei ein solches Tempo vor, dass Joshua im ersten Moment beinahe Mühe hatte, mitzuhalten. »Wohin gehen wir, Meister?«, fragte er, nachdem er keuchend wieder zu mir aufgeholt hatte und sich mit dem Handrücken über die Augen fuhr. Der Regen klatschte uns eisig in die Gesichter und die Straße vor uns glänzte wie ein grauer Ozean. Bis zur nächsten Biegung waren es vielleicht noch hundert Schritte, allerhöchstens hundertfünfzig, und dann über den Ashton Place hinüber noch einmal die gleiche Distanz. Aber ich war plötzlich nicht mehr ganz sicher, dass ich sie noch bewältigen konnte.
»Du hattest Recht«, sagte ich. »Er ist hier. Ich kann ihn spüren. Wir müssen vorsichtig sein.«
Joshua nickte mit jenem feierlichen Ernst, den nur Kinder aufzubringen vermögen, und ersparte sich zu meiner Erleichterung jede weitere Frage. Ich war ihm sehr dankbar dafür, denn hätte er mich etwa gefragt, was wir nun unternehmen sollten, hätte ich die Antwort auch nicht gewusst. Bisher war es mir gelungen, mich auch mir selbst gegenüber vor der Beantwortung dieser Frage zu drücken. Doch nun wurde sie allmählich drängend. Ich hatte in der Tat nicht die geringste Ahnung, was ich tun sollte, selbst wenn es mir gelang, Crowley zu stellen. Körperlich war ich ihm nicht gewachsen. Und was mein magisches Erbe anging … Ich hatte seit meiner Rückkehr nach London mehrere Male versucht, mich jener unheimlichen Kräfte zu bedienen, die mir Zeit meines Lebens mal als Fluch, mal als Segen vorgekommen waren. Doch entweder hatte ich sie zusammen mit meinem Körper verloren oder Crowley hatte dafür gesorgt, dass sie mir nicht mehr zur Verfügung standen. Und selbst, wenn es anders gewesen wäre – da war immer noch Joshua. Wozu dieses harmlos aussehende Kind in der Lage war, das hatte er mir zur Genüge bewiesen. Auch wenn ein Wunder geschehen und ich gegen jede Logik mit Crowley fertig werden sollte – gegen Joshua Pasons hatte ich keine Chance. Die hätte ich vielleicht nicht einmal gehabt, wäre ich im Besitz meines eigenen Leibes und im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte gewesen.
Kurz bevor wir die Einmündung zum Ashton-Place erreichten, blieb ich stehen, sah mich einen Moment suchend um und deutete schließlich auf ein Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Es war etwas kleiner als die meisten Gebäude hier, lag jedoch inmitten eines gewaltigen, verwilderten Gartens, dessen Bäume hinlänglich Schutz gegen den Regen und vor allem vor einer Entdeckung drohten. Es handelte sich um die Stadtwohnung irgendeines englischen Adeligen, die elf von zwölf Monaten im Jahr leer stand. Zumindest war das vor fünf Jahren so gewesen, als ich noch hier gelebt hatte. Ich hoffte, dass sich daran nichts geändert hatte.
»Du bleibst hier«, sagte ich. »Versteck dich irgendwo dort drüben unter den Bäumen und warte, bis ich zurückkomme.«
Joshua riss die Augen auf. »Aber ich -«
»Tu, was ich dir sage!«, befahl ich ihm scharf. »Wenn ich deine Hilfe brauche, werde ich es dich wissen lassen.«
Joshua starrte mich an und eine schreckliche Sekunde lang war ich sicher, den Bogen überspannt zu haben. Aber dann senkte er den Blick und nickte, wenn auch mit einem Widerwillen, der nicht zu übersehen war. »Wie Ihr befehlt, Meister«, sagte er.
Ich antwortete nicht mehr, sondern machte
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